Der fremde Freund - Drachenblut
niemals Lust, etwas auszuforschen, was mir, so wie es war, gefiel.
Unsere Distanz gab unserem Verhältnis eine spröde und mir angenehme Vertraulichkeit. Ich hatte kein Bedürfnis,mich nochmals einem Menschen völlig zu offenbaren, mich einem anderen auszuliefern. Mir gefiel es, die andere Haut zu streicheln, ohne den Wunsch zu haben, in sie hineinzukriechen.
Vielleicht war meine Zurückhaltung lediglich eine Alterserscheinung. Aber das interessierte mich nicht. Ich war zufrieden damit, und weiter wollte ich nichts wissen.
Am nächsten Morgen frühstückten wir gemeinsam. Während des Essens machte er kleine Zauberkunststücke mit dem Besteck und dem gekochten Ei. Er war vergnügt. Ich sagte ihm, daß ich übers Wochenende aufs Land fahre, ich müßte einen Besuch machen. Er wollte mitkommen, aber ich sagte ihm, das sei unmöglich. Er fragte nicht, weshalb. Plötzlich hatte ich keine Lust wegzufahren, aber ich hatte es meiner Mutter versprochen, an diesem Wochenende zu kommen. Ich konnte ihr nicht mehr absagen, doch ich zögerte die Abfahrt hinaus.
Ich spielte mit Henry Schach, brach die Partie aber vorzeitig ab, als ich meine aufkommende Nervosität spürte. Die Besuche bei meinen Eltern machen mich immer nervös. Ich bin bereits Stunden davor wie gerädert. Es sind Höflichkeitsbesuche bei Leuten, mit denen mich nichts verbindet. Vielleicht entspringt meine Gereiztheit einfach dem Umstand, daß diese beiden Leute das Recht haben, mich Tochter zu nennen, auf meine Erfolge stolz zu sein, mir Ratschläge zu erteilen und mir bei der Abfahrt Kuchen oder ein Glas mit Eingemachtem zuzustecken. Sie beharren nachdrücklich auf ihrem Vorrecht und sind immerzu gekränkt, weil ich mich selten bei ihnen sehen lasse. Ich bin sicher, daß auch sie nichts mehr mit mir zu tun haben, aber daß sie es sich nicht eingestehen. Schon eine solche Überlegung werden sie sich niemals gestatten. Die zufällige Bindung wird weiterhin behauptet, irgendeine unnennbare Schuldigkeit, die einen zu Sinnlosigkeiten wie überflüssigen Besuchen nötigt.
Als Henry aufbrach, fragte ich ihn, was er übers Wochenende machen würde. Er stand in der Tür, sah mich an und überlegte. Sein Filzhut war zurückgeschoben.
Vermutlich nichts Besonderes, sagte er, beugte sich vor, um mich flüchtig zu küssen, und ging.
Am Abend war ich bei den Eltern. Ich war spät angekommen (wir dachten schon, du hast uns ganz vergessen, mein Kind), und sie saßen bereits vor dem Fernsehapparat. Der Tisch war für mich noch gedeckt, auch die Torte vom Nachmittag stand da (und wir hatten so lange gewartet, auch Tante Gerda, du mußt unbedingt bei ihr vorbeigehen, sie hängt so an dir, Kind). Ich war müde und gereizt, doch ich nahm mich zusammen. Auf dem Büfett lag der Zettel mit den gewünschten Medikamenten. Mutter gab mir bei jedem meiner Besuche solch einen Zettel mit. Ich mußte ihr die Medikamente besorgen und schicken, und sie verteilte sie dann in der Nachbarschaft. Ich bin es einfach den Leuten schuldig, meinte sie, die sollen nicht denken, du seist eingebildet, seit du Doktor bist.
Um elf ging ich ins Bett. Vater blieb vor dem Apparat sitzen. Er würde erst schlafen gehen, wenn die Schnapsflasche leer wäre.
Als ich in meinem alten Bett lag, kam Mutter herein. Sie setzte sich auf die Bettkante und sagte, wir müßten miteinander reden. Es gäbe so viel Unausgesprochenes zwischen uns. Ich sagte, ich verstünde nicht, was sie damit meine. Sie wurde traurig und fragte, warum ich so kalt zu ihr sei, so lieblos. Ich protestierte leicht, aber ohne Überzeugung, nur um keinen Streit aufkommen zu lassen.
Die Frau, die neben mir auf dem Bett saß, tat mir leid, aber weiter konnte ich kein Gefühl für sie aufbringen. Ich verstand nicht, warum sie es beklagte, daß wir kein herzlicheres Verhältnis haben. Wir sahen uns selten, so selten, daß es ihr doch auch gleichgültig sein müßte. Aber sie bedauerte sich und weinte ein bißchen, und das tat mir leid.Dann sprach sie über Vater, dem es gar nicht gutgehen würde. Man hatte ihn aus dem Betrieb rausgegrault, als er das Rentenalter erreichte, obwohl er weiterarbeiten wollte. Es gab da irgendeine Affäre mit einem Lehrling, den er geohrfeigt hatte. Die Betriebsleitung stellte Vater vor die Alternative, entweder sofort in Rente zu gehen oder seine Meistertätigkeit aufzugeben. Vater kündigte von heut auf morgen. Die vorgesehene Auszeichnung zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag fiel aus. Man sagte ihm, durch den
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