Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
dabei würde ich es so gern wissen. Vielleicht hast du ja völlig Recht mit deiner Abneigung gegen Rebecca, und …«
Er unterbrach sie grob. »Vielleicht! Vielleicht! Wieso zweifelst du? Ich habe natürlich Recht. Natürlich !«
Sie musste vorsichtiger sein. Er war völlig durchgedreht. Jedes falsche Wort von ihr konnte ihn in Rage bringen.
»Sicher hast du Recht«, sagte sie in besänftigendem Ton, »es tut mir Leid, wenn ich gerade den Eindruck erweckt habe, deine Worte anzuzweifeln.«
Er trank in hastigen Zügen seinen Kaffee. Dass er Inga ein Glas Wasser hatte bringen wollen, schien er schon wieder vergessen zu haben.
»Ich habe keine Lust, mit dir zu streiten«, sagte er, als sein Becher leer war. »Ich wünschte, du wärst überhaupt nicht hier. Du hast mit alldem nichts zu tun. Ich frage mich, weshalb ich nicht noch einen Tag warten konnte. Dann hättest du im Flugzeug gesessen!«
Inga überlegte, wie weit sie es riskieren konnte, sich bei ihm einzuschmeicheln. Es konnte für sie durchaus von Vorteil sein, mit ihm eine Solidarität herzustellen, aber sie durfte dabei nicht plump vorgehen. Er war zweifellos geisteskrank, aber er war nicht dumm. Sie dachte daran, mit welcher Leichtigkeit und Brillanz er daheim sein Studium absolvierte.
Unterschätze ihn nicht , warnte ihre innere Stimme.
»Vielleicht sollte es so kommen«, sagte sie, »vielleicht sollte ich noch hier sein.«
Er sah sie misstrauisch an. »Wieso?«
»Nun … ich meine … wir sind immer noch verheiratet. Bis vor wenigen Tagen war noch alles in Ordnung zwischen uns. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass so etwas geschieht – ich fliege allein nach Deutschland zurück, und du … beschäftigst dich hier mit Rebecca, ohne dass ich auch nur das Geringste davon weiß. Wir haben doch alles geteilt. Warum nicht auch das hier?«
»Was genau meinst du?« Er war immer noch misstrauisch. Inga wusste, dass sie sehr vorsichtig sein, jedes Wort abwägen musste.
»Ich meine das, was dich mit Rebecca verbindet. Ich meine
den Vorwurf, den du ihr machst. Kannst du dir nicht vorstellen, dass es mich kränkt, davon überhaupt nichts zu wissen? Es scheint eine so große Rolle in deinem Leben zu spielen, aber du möchtest nicht, dass ich davon erfahre. Ich verstehe nicht, warum. Ich verstehe nicht, warum du mich von den Dingen, die in deinem Leben offenbar von besonderer Wichtigkeit sind, ausgeschlossen hast!«
Sie hielt inne. Sie wusste, dass sie überzeugend gewesen war, weil sie wirklich empfand, was sie gesagt hatte.
Marius mochte seine stachelige Abwehr noch nicht aufgeben. »Das ist alles meine Sache. Du hast dich doch früher für mein Leben auch nicht interessiert!«
»Das ist doch nicht wahr. Du hast mir nur nie gesagt, dass es in deinem Leben Episoden gab, die sehr … schmerzhaft oder kränkend für dich waren und dich bis heute verfolgen. Wenn ich dich nach deiner Vergangenheit fragte, nach deiner Familie, nach Freunden von früher, bist du immer ausgewichen. Du warst immer der fröhliche Marius, der das Leben leicht nimmt, der alle Probleme löst, der sein Studium wie nebenher absolviert und jede Menge Zeit findet für lustige und abenteuerliche Unternehmungen. Wie sollte ich darauf kommen, dass es … Untiefen gab in deinem Leben?«
Du hast es genau gespürt. Du wusstest, dass etwas nicht stimmt mit ihm. Aber du hast ja jede Menge Energie darauf verwandt, alles, was dich nachdenklich hätte stimmen können, sofort zu verdrängen.
Marius’ Augen sahen für einen Moment genauso aus wie früher. Klar und freundlich. Der kranke Ausdruck war verschwunden. Aber Inga wusste, dass sie sich nichts vormachen durfte. Marius konnte von einem Moment zum anderen wieder ihr Feind werden. Er war gefährlich, das durfte sie keinesfalls vergessen.
»Du hast Recht«, sagte er sanft, »ich wollte nicht darüber
sprechen. Es geht mir besser, wenn ich nicht daran denke. Warum soll ich mir das Leben verderben? Ich habe ein gutes Leben vor mir, verstehst du? Ich werde mein Examen mit Auszeichnung machen. Ich werde ein Spitzenanwalt werden. Mir werden die renommiertesten Kanzleien offen stehen. Warum sollte ich mich mit Dingen beschäftigen, die lange vorbei sind?«
Er sah so normal aus, blickte sie so fragend und offen an, dass Inga die Absurdität der Situation besonders deutlich wurde: dass sie hier vor ihm saß und an Händen und Füßen gefesselt war, dass irgendwo oben im Haus Rebecca ebenfalls gefesselt lag oder saß und man nur beten konnte,
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