Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
damit meinte –, dass er ganz aufgeregt gewesen war. Er hatte die Frau hier im Haus noch nie gesehen. Sie war klein und dünn, und er fand, dass sie einen schönen Pullover anhatte. Aus roter Wolle, die sehr flauschig wirkte. Er hätte den Pullover gern angefasst, um zu fühlen, ob er so weich war, wie er aussah, aber er traute sich nicht.
Er begriff nicht, worüber die Erwachsenen redeten. Genau genommen redete sein Vater gar nichts, sondern starrte mit schwimmenden Augen aus dem Fenster. Mama sprach ohne Punkt und Komma, und sie hatte einen hektischen, schrillen Unterton in der Stimme. Er mochte es nicht, wenn ihre Stimme so klang. Fast immer begann sie dann irgendwann zu schreien, und oft warf sie dann Gegenstände nach dem Vater. Einmal hatte sie einen Aschenbecher durch die Fensterscheibe geschmissen.
Die fremde Frau hatte eine angenehme Art zu sprechen. Leise und beruhigend. Sicher regte sie sich nicht ständig auf, so wie Mama. Er entsann sich, überlegt zu haben, wie es sein
musste, das Kind einer Frau zu sein, die mit solch einer Stimme sprach. Es war eine recht schöne Vorstellung gewesen.
Als die Frau weg gewesen war, hatte Mama begonnen, herumzuschreien und eine Zigarette nach der anderen zu rauchen. Sie hatte Papa beschimpft, weil er in ihre Wut nicht einstimmen mochte. Papa hatte aber vielleicht gar nicht begriffen, dass die fremde Frau da gewesen war. Er hatte sie nicht einmal angeschaut und kein Wort zu ihr gesagt. Es war ungerecht von Mama, so über ihn herzufallen, wenn er doch gar nicht wusste, worum es ging.
Die fremde Frau war von nun an ziemlich oft gekommen. Sie hieß Frau Wiegand, und sie war wirklich recht nett. Sie unterhielt sich auch mit ihm oft, ließ sich seine Sammlung getrockneter Blätter zeigen und war beeindruckt von seinen Fußballerkarten. Eigentlich mochte er sie, aber es wäre ihm trotzdem lieber gewesen, sie wäre weggeblieben, weil Mama nach ihren Besuchen immer so furchtbar schlechte Laune hatte. Die ließ sie dann an Papa aus. Irgendwann wurde ihm klar, dass ihr Familienleben besser funktioniert hatte, als es Frau Wiegand noch nicht gab.
Das war der Moment, als seine Einstellung ihr gegenüber kippte. Jetzt stimmte er völlig mit seiner Mutter überein. Die sagte oft über Frau Wiegand: »Die Alte soll doch zum Teufel gehen!«
Und genau das fand er jetzt auch.
Er begann sie zu hassen. Nachts, wenn er im Bett lag, malte er sich Dinge aus, die man mit ihr tun könnte. Um sie zu bestrafen und um sie unschädlich zu machen. Er hatte tolle Sachen im Fernsehen gesehen. Eines hatte ihm besonders gefallen: Eingeborene auf einer Südseeinsel hatten einen bösen Piraten, der zuvor ihr Dorf hatte niederbrennen lassen, hingerichtet. Zu diesem Zweck hatten sie die Stämme zweier Palmen, die in einigem Abstand voneinander wuchsen, so
weit es nur ging zusammengebogen und mit Stricken festgebunden. Dann hatte man den Piraten in einiger Höhe dazwischen gefesselt, mit einem Arm und einem Bein an die eine Palme, mit dem anderen Arm und dem anderen Bein an die andere Palme. Dann waren die Stricke, die die Bäume zusammenhielten, mit einem Schwert durchtrennt worden, und die Bäume waren in ihre alte Position zurückgeschnellt. Der Pirat war zerrissen worden.
Es machte Spaß, sich Frau Wiegand zwischen zwei solchen Palmen vorzustellen. Er fing an, sich richtig am Abend darauf zu freuen, ins Bett zu gehen und sich seinen Fantasien ungestört hinzugeben.
Einmal fragte er Mama, wer denn Frau Wiegand sei und weshalb sie immer wieder zu Besuch käme.
Mama hatte gesagt: »Sozialarbeiterin!« Sie hatte das Wort mit größter Verächtlichkeit ausgesprochen. »Weißt du, was das ist?«
Er hatte es nicht gewusst.
»Das sind Leute, die mischen sich in die Angelegenheiten von anderen. Das ist ihr Beruf. Sie kontrollieren andere und stecken ihre Nasen in deren Angelegenheiten. Frau Wiegand meint, dass wir ohne sie nicht zurechtkommen. Dass sie nach uns sehen muss. Sie denkt, dass deine Mama und dein Papa nicht in der Lage sind, allein mit dem Leben klarzukommen und dich großzuziehen! Wie findest du das?«
Er hatte es empörend gefunden.
Aber als Papa ihm den Arm brach, da war die Alte natürlich nicht da gewesen! Einmal hätte er sie wirklich brauchen können. Er hatte geschrien wie am Spieß, sein Leben lang würde er diese mörderischen Schmerzen nicht vergessen. Mama musste mit ihm ins Krankenhaus. Sie war schneeweiß im Gesicht gewesen und hatte ihm eingebläut, er solle sagen, dass er
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