Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
war ihr an ihm überhaupt nicht gelegen, und sie hatte nur im Sinn, ihre Haut zu retten. Inga war genauso. Er hatte geglaubt, sie sei wirklich an seiner Geschichte interessiert, sei entschlossen, ihn verstehen zu wollen, und am Ende sogar bereit, sich gegen ihre geliebte Rebecca auf seine Seite zu stellen, und dann hatte sie ihr Alleinsein im Wohnzimmer nur dazu genutzt, ihre Fesseln zu lockern, um ihm davonlaufen zu können.
Ihre Fesseln! Er durfte nicht versäumen, sie in kurzen Abständen zu kontrollieren.
Ich muss das unbedingt im Kopf behalten!
Wieder strich er sich die Haare aus der Stirn. Es war so anstrengend.
Seine Situation hatte sich durch Ingas Anwesenheit entschieden verkompliziert. Natürlich kamen Schlafmangel und Hunger dazu. Es war jetzt ein Uhr in der Nacht. Wann hatte er zuletzt geschlafen? Wann gegessen?
Egal. Das war jetzt unwichtig. Er würde durchhalten, weil er durchhalten musste.
»Ein Albtraum«, griff er ihre letzten Worte auf, »ja, das ist richtig. Es war ein einziger Albtraum. Ein jahrelanger Albtraum ohne die geringste Aussicht auf Hilfe.«
»Sie wollten vorhin noch etwas erzählen«, sagte sie. »Sie berichteten von einem Abend, an dem Ihre Pflegeeltern Gäste hatten. Sie schlichen in die Küche hinunter, um etwas zu essen. Sie waren sehr hungrig.«
Sie überraschte ihn. Sie hörte tatsächlich zu. Zeigte Interesse. Wenn sie schauspielerte, dann machte sie das geschickt.
Er stand auf. Es gelang ihm immer nur für wenige Minuten, still sitzen zu bleiben.
»Ja, richtig. Jener Abend. Die Erinnerungen fallen geradezu über mich her, verstehst du? Es fällt mir schwer, all die Bilder zu ordnen.«
»Es gibt keinen Grund, weshalb wir an eine bestimmte Reihenfolge gebunden sein sollten«, sagte sie.
Er nickte. »Du hast Recht. Ich setze mich unter Druck. Ich muss damit aufhören. Wir haben alle Zeit der Welt, nicht wahr?«
»Was war an jenem Abend?«
Es hatte ihn wirklich nicht interessiert, wer die Gäste waren; er wusste es im Übrigen bis zum heutigen Tag nicht. Es war ihm auch völlig gleichgültig, worüber sie mit Fred und Greta sprachen. Ihm ging es einzig und allein um etwas zu essen. Greta hat Steaks gebraten, und die befanden sich mit Sicherheit längst auf den Tellern der kleinen Gesellschaft, aber er hoffte auf Beilagen, von denen noch Reste auf dem Herd
stehen mochten. Vielleicht hatte sie zum Aperitif Erdnüsse serviert und einige davon wieder in die Küche zurückgestellt, und es würde sicher nicht auffallen, wenn er sich ein paar davon nahm. Und dann meinte er, Tomatensuppe gerochen zu haben. Wenn nicht alles in die Teller gepasst hatte, war auch davon noch etwas zu finden. Wenn er hier ein bisschen stibitzte und dort, merkte sicher niemand etwas.
Das Unternehmen war hoch riskant, und das Herz schlug ihm bis zum Hals, aber sein Hunger war letztlich größer als seine Angst. Als er den unteren Treppenabsatz erreicht hatte – die gefährlichste Stelle, denn hier befand er sich gleich neben der Tür, die zum Esszimmer führte –, hörte er plötzlich seinen Namen. Unwillkürlich blieb er stehen. Sie redeten über ihn? Wollten die Gäste ihn sehen? Hieß das, gleich kämen Fred oder Greta heraus, um ihn zu rufen?
Sein erster Impuls war, umzudrehen und so schnell er nur konnte die Treppe hinaufzustürmen. Aber irgendetwas hielt ihn fest. Vielleicht war er auch nur vor Schreck wie gelähmt.
»Aber warum ein Pflegekind ?«, fragte eine Frau. Es war nicht Greta, es musste also die Dame in Grün sein. »Ich meine, da sind Sie doch größter Unsicherheit ausgesetzt! Marius kann Ihnen jederzeit wieder weggenommen werden!«
»Nun, mir wäre es tatsächlich lieber gewesen …«, setzte Greta an, aber sie wurde von Fred unterbrochen.
»Meine Frau wollte unbedingt ein Kind. Und da schien uns diese Variante die vernünftigste Lösung zu sein.«
»Aber Sie hätten doch ein Kind adoptieren können«, beharrte die grüne Dame, »da wären Sie auf der sicheren Seite gewesen. Ein adoptiertes Kind ist wie ein leibliches Kind. Es trägt Ihren Namen, gehört untrennbar zu Ihrer Familie. Niemand kann es Ihnen wegnehmen.«
»Man hat doch keine Ahnung, was man da bekommt«, sagte Fred.
Jetzt mischte sich der andere Mann ein.
»Das wissen Sie im Grunde bei den leiblichen Kindern auch nicht. Unser Sohn hat uns verlassen, als er achtzehn wurde. Angeblich sind wir spießig und kleinkariert, und man kann mit uns nicht auskommen. Inzwischen ist er fünfundzwanzig, und das Letzte, was
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