Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
Weise kochte Greta recht gut.
Er ging ein hohes Risiko ein. Wenn sie ihn in der Küche ertappten, während er Lebensmittel stahl – sie nannten es stehlen , wenn er sich außerhalb der offiziellen Mahlzeiten etwas nahm –, würden sie ihn wieder schlagen. Und das bevorstehende Wochenende über einsperren und hungern lassen. Solche drakonischen Strafen wagten sie immer nur am Wochenende, wenn er nicht zur Schule musste, denn sonst wäre das Risiko zu hoch, dass jemand etwas merkte. Er war ein halbes Jahr zuvor mitten im Unterricht vor Hunger aus der Bank gekippt und für Sekunden ohnmächtig gewesen. Seine Lehrerin hatte mit Greta und Fred gesprochen, aber natürlich war es Fred wieder gelungen, die Angelegenheit als
harmlos darzustellen. Er hatte sich tief besorgt darüber geäußert, dass sein Pflegesohn ein so schlechter Esser sei, der fast alles ablehne, was man ihm vorsetzte.
»Ginge es nach ihm, er würde sich ausschließlich von Pommes frites und Pizza ernähren«, hatte er erklärt, die Stirn in Dackelfalten gelegt. »Aber so kann man ein Kind nicht großziehen, oder? Meine Frau gibt sich alle erdenkliche Mühe, ihm Gemüse und Fleisch schmackhaft zu machen. Aber wie oft muss sie seinen unberührten Teller wieder abräumen! «
Die Lehrerin war auf Freds Getue hereingefallen.
»Das ist in vielen Familien ein Problem«, hatte sie gesagt, »die Kinder sind durch das große Angebot an Fast Food in eine bestimmte Richtung hin verwöhnt worden, und es fällt schwer, ihnen andere Dinge, die weit bekömmlicher sind, zuzuführen. Dennoch – Marius ist extrem dünn. Es könnte ja auch …«, sie hatte die Stimme gesenkt, dabei war er im Raum und hörte sowieso jedes Wort, »… nun, es könnte ja auch eine ernst zu nehmende Essstörung vorliegen. Schließlich … bei seiner Geschichte …«
Fred hatte so getan, als halte er sie für eine ausgezeichnete Pädagogin, die ihm einen wertvollen Denkanstoß vermittelt hatte. »Ich werde überlegen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen«, hatte er versichert. »Sie haben völlig Recht, man darf mit derlei Problemen nicht leichtfertig umgehen. «
Ihm war ganz schlecht geworden bei diesem Gerede. Er hatte es zu diesem Zeitpunkt schon aufgegeben, auf Hilfe zu hoffen oder um Hilfe zu bitten. Er war stets abgeblitzt, und in ihm hatte sich die Ansicht verfestigt, dass Fred Lenowsky mit dem Teufel im Bund stand und von Mächten beschützt wurde, an die niemand zu rühren vermochte. Zudem hatte er es immer bereuen müssen, wenn er einen Versuch gewagt
hatte, sich aus seiner Situation zu befreien. In Freds Augen war das Hochverrat gewesen.
Trotzdem, er hatte es an jenem Tag noch einmal riskiert. Soweit er sich erinnerte, war es sein letzter Versuch gewesen. Die Lehrerin war schon aufgestanden, um sich zu verabschieden, und er sah mit ihr eine vielleicht nie wiederkehrende Chance durch die Tür entschwinden.
»Sie geben mir oft nichts zu essen«, hatte er hastig gesagt und es dabei nicht gewagt, Fred anzusehen, »sehr oft. Ich habe immer Hunger.«
Sie hatte eher irritiert als schockiert gewirkt. Er spürte, dass sie Probleme hatte, ihm seine Behauptung zu glauben. Wer war er denn in ihren Augen? Ein großer, dünner Junge, der aus asozialen Verhältnissen stammte, Sohn zweier Alkoholiker, vernachlässigt, verwahrlost. Man hatte ihn halb verhungert und verdurstet und angekettet in einem verdreckten Badezimmer gefunden, in seiner eigenen Scheiße liegend, weil seine Kette ihm nicht die Möglichkeit gelassen hatte, die Toilette zu benutzen, und fast wahnsinnig vor Angst und Verzweiflung. Kein Wunder, dass er durchgedreht war! Dass er Essstörungen hatte und aus heiterem Himmel ohnmächtig wurde und die Menschen, die es gut mit ihm meinten, mit übler Nachrede verfolgte. Mit seiner Vergangenheit konnte er überhaupt nicht normal sein! Und ihm gegenüber Fred Lenowsky, der angesehene Anwalt, der gut aussehende, tadellos gekleidete Mann mit den grauen Schläfen und dem teuren Rasierwasser und der Aura von Erfolg, Gelassenheit und Eleganz. Er hatte die besseren Karten. Würde sie immer haben.
»Nun«, sagte Fred, »du meinst, du bekommst nicht immer das, was du essen möchtest. Darüber haben wir doch schon so oft gesprochen. Und nachher werden wir es wieder tun.«
Er hatte den Kopf gehoben und Fred angesehen. Fred lächelte.
Ein kaltes, schmallippiges Lächeln. Wer ihn kannte, sah die namenlose Wut hinter diesem Lächeln. Er würde es ihm heimzahlen. Wenn die Lehrerin fort
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