Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
war, würde er sich rächen.
Sie kapierte natürlich überhaupt nichts.
Freundlich meinte sie: »Du hast es nicht leicht gehabt in deinem Leben, Marius, das weiß ich. Aber du musst dich dennoch ein wenig bemühen. Man meint es hier gut mit dir. Versprichst du mir, in Zukunft vernünftiger zu sein?«
Er hatte wortlos genickt.
Er war im Zimmer geblieben, während Fred die Lehrerin zur Tür begleitete. Er hatte sie auf dem Gang reden hören.
»Es ist leider so, dass Marius uns gelegentlich nach außen hin schlecht macht«, hatte Fred gesagt. Es war wirklich erstaunlich, wie bekümmert er klingen konnte. »Ich habe den Eindruck, dass er nicht damit fertig wird, wie übel ihn seine leiblichen Eltern behandelt haben. Er versucht noch immer, ihnen gegenüber loyal zu sein und ihr Verhalten zu entschuldigen. Häufig stellt er meine Frau und mich als böse hin, damit seine leiblichen Eltern dagegen positiv wirken. Natürlich verstehen wir ihn und seine überaus schwere Situation, aber besonders meine Frau leidet auch oft unter seinem Verhalten. «
»Das kann ich gut nachempfinden«, sagte die Lehrerin, »und ich bewundere Sie für Ihren Einsatz. Kinder wie Marius brauchen Hilfe, aber es gibt sicher nicht viele Menschen, die bereit sind, ihre eigenen Interessen zurückzustellen, um ihnen diese Hilfe zu geben. Ich hoffe, es wird irgendwann leichter für Sie.«
»Das wird es bestimmt«, sagte Fred voller Überzeugung. »Letztlich bin ich überzeugt, dass Liebe wahre Wunder bewirkt. Und wir haben den kleinen Kerl wirklich von Herzen gern.«
Er hätte heulen können dort so allein im Wohnzimmer, und dann hatte er gehört, wie sich Fred Lenowskys Schritte wieder näherten, und ihm war übel geworden vor Angst.
Er war vom Thema abgekommen. Er war mit seinen Gedanken woanders gewesen, er hatte Rebecca etwas ganz anderes erzählen wollen. Was war es noch?
Er schwitzte. Als er sich mit den Fingern durch die Stirnhaare fuhr, merkte er, dass sie sich zu feuchten Strähnen verklebt hatten.
Er hatte die Geschichte von der Lehrerin erzählt. Aber angefangen hatte er … mit der Geschichte von jenem Abend, als er hungrig in die Küche geschlichen war. Richtig. Er schweifte ab. Es gelang ihm nicht, logisch und geradlinig sein Leben zu erzählen. Ausgerechnet er! Er studierte Jura. Er schrieb tolle Noten! Er hatte nicht die geringsten Schwierigkeiten, seine Hausarbeiten und Klausuren in stimmiger Abfolge aufzubauen. Aber hier, bei der wichtigsten Aufgabe, die er sich je gestellt hatte, gelang es ihm nicht. Es war zum Heulen.
Rebecca war noch immer an Händen und Füßen gefesselt, aber sie hatte ihm keinen Anlass gegeben, ihr erneut das Taschentuch in den Mund zu stopfen. Wahrscheinlich fürchtete sie sich vor nichts so sehr wie davor. Jedenfalls schrie sie nicht herum oder versuchte auf irgendeine Weise, ihn auszutricksen, um fliehen zu können. Tatsächlich schien sie sogar ein wenig ruhiger zu werden. Zu Anfang hatte sie wie ein panisches Tier in einer todbringenden Falle ausgesehen, aber inzwischen war das Flackern aus ihren Augen verschwunden. Auch ihr Atem ging gleichmäßiger; eine ganze Zeit lang hatte er sich wie stoßweises Keuchen angehört. Zwar hatte es ihm gefallen, sie in Angst zu sehen, sie sollte leiden, sollte Furcht und Entsetzen kennen lernen, aber am allerwichtigsten
war es ihm, dass sie ihm zuhörte. Sie sollte begreifen, was er sagte, sollte verinnerlichen, was sie ihm angetan hatte. Ihre Schuld sollte ihr in aller Deutlichkeit bewusst werden.
Er schrak zusammen, als sie plötzlich etwas sagte. Die ganze Zeit über hatte sie ihm schweigend zugehört.
»Das war sehr schlimm«, sagte sie, »wirklich, Marius, ich kann verstehen, wie verzweifelt Ihre Situation als Kind und als Heranwachsender gewesen sein muss.«
Er war schon dicht davor gewesen, aufzuspringen und sie anzubrüllen, wie sie es wagen könne, das Maul aufzumachen, aber er beherrschte sich in letzter Sekunde. Sie hatte leise gesprochen. Und das hatte er ihr gestattet. Sie hatte sich an seine Regeln gehalten. Und schließlich war sie endlich da, wo er sie hatte haben wollen. Im Dialog mit ihm. Das war wichtig. Sie sollte sich auf ihn einlassen.
Er entspannte sich ein wenig.
»Ach ja?«, fragte er aggressiv zurück. »Du kannst das verstehen? «
»Natürlich. Es muss ein Albtraum gewesen sein!«
Er sah sie eindringlich an. Meinte sie, was sie sagte? Am Ende laberte sie irgendetwas, wovon sie glaubte, dass er es hören wollte. Vielleicht
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