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Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Titel: Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Sozialisation sein, also die Art, wie wir aufwachsen und dabei von unserer Umgebung geprägt werden.«
    »Wie auch immer«, sagte Fred. Er klang ungeduldig. Marius, für dessen Unversehrtheit es an jedem einzelnen Tag von größter Bedeutung war, Freds Stimmungen so weit wie möglich im Vorfeld seismographisch zu erfassen und sein Verhalten darauf abzustellen, kannte diesen Unterton, der aufkeimenden Ärger verriet, nur zu gut. Die anderen mochten davon womöglich noch nichts mitbekommen. Außer Greta vielleicht.

    »Ich möchte mich nicht über Theorien streiten«, fuhr Fred fort, »und wahrscheinlich wäre dies auch ein viel zu weites Feld. Im Übrigen, wie ich erwähnte, war der Junge sechs Jahre alt, als er zu uns kam. Entscheidende sechs Jahre lang hat er also unter dem verkommensten Gesindel gelebt, das man sich denken kann. Und ist von ihm geprägt worden.«
    »Mit sechs Jahren sind sie noch so klein«, sagte Nellie. »Ich denke, mit viel Liebe und Zuwendung kann man da noch ganz viel bewirken.«
    »Und ich bin eher dafür, ihn hart anzufassen«, sagte Fred, »damit lässt sich auch ganz viel bewirken. Ich lasse ihm nichts durchgehen. Nichts! Und ich muss sagen, bis auf wenige Ausnahmen folgt er wie eine Eins!«
    »Sie müssen es wissen«, sagte Richard nach einer kurzen Pause. »Sie werden schon das Richtige tun.«
    »Aber ich finde«, setzte Nellie noch einmal an, doch ihr Mann unterbrach sie: »Nellie, da können wir nicht mitreden. Die Menschen, die die Verantwortung für ein solches Kind übernommen haben, müssen ganz allein entscheiden, was sie für das Beste halten. Schließlich sind sie es auch, die mit den Konsequenzen leben müssen.«
    Marius bohrte draußen seine Fingernägel noch tiefer in die Handflächen, ohne den geringsten Schmerz zu spüren. Sie mussten doch etwas unternehmen! Fred hatte sich verraten. Sie hatten seinen Hass erkannt. Er hatte gesagt, dass er seinen Pflegesohn verachte. Er hatte gesagt, dass er ihn hart anpacke. Nellie und Richard, wer auch immer sie waren, mussten doch jetzt etwas unternehmen!
    »Fred, unsere Gäste haben keinen Wein mehr«, mahnte Greta.
    Offenbar wurde sogleich nachgeschenkt, denn Richard sagte: »Vielen Dank. Ein herrlicher Wein übrigens.«

    Und Nellie fügte hinzu: »Und auch das Essen ist großartig! Ich bewundere gute Köche!«
    Man wandte sich anderen Themen zu.
     
    Er starrte Rebecca an. Er war hin und her gegangen, während er erzählte. Ihm lief der Schweiß in Strömen über den Körper. Sein Gesicht war nass. Es konnte sein, ihm waren ein paar Tränen über die Wangen gelaufen, er wusste es nicht genau.
    »Verstehst du? Schon wieder wurde eine Hoffnung zerschlagen. Fred hatte sich immer und überall, beim Jugendamt und sonstwo, als der perfekte Ersatzvater aufgespielt. Liebevoll, verständnisvoll, engagiert. Es war zum Wahnsinnigwerden, wenn man seine Show miterleben musste. Er war erstklassig darin. Er konnte sogar seiner Stimme Wärme geben und Besorgnis und Anteilnahme und was weiß ich noch ausdrücken! Er war eine einzigartige Verkörperung von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Ein Mann mit zwei Gesichtern. Der nie die Kontrolle über die Rolle verlor, die gerade angesagt war. Außer an jenem Abend. In all den Jahren war es das einzige Mal – das einzige Mal jedenfalls, das ich miterlebte, aber ich vermute, es gab tatsächlich darüber hinaus keinen anderen Moment mehr –, dass er für zehn oder fünfzehn Minuten die Maske absetzte. Er verriet seinen Hass und seine Verachtung, und er verriet sogar, auf welche Weise er mit mir umsprang. Es konnte für seine Gäste keinen Zweifel mehr geben, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte!« Wieder der hektische Griff in seine Haare. Sie waren mittlerweile so nass, als habe er eine Dusche genommen. »Verstehst du?«
    Er fragte immer wieder Verstehst du? Es war ihm so wichtig, dass sie verstand.
    »Sie bekamen mich nicht zu Gesicht an jenem Abend! Sie erschienen um sieben Uhr. Und ich, ein zwölfjähriger Junge,
war bereits auf mein Zimmer verbannt. Man hörte und sah mich nicht. Ist so etwas nicht seltsam?«
    Er wartete. Als sie nicht sofort antwortete, schrie er: »Hättest du das nicht seltsam gefunden?«
    Rebecca atmete tief. »Natürlich«, sagte sie, »aber wir wissen nicht, welche Erklärung Fred Lenowsky für diesen Umstand abgegeben hat. Schließlich haben Sie ja nicht alles mitbekommen. Vielleicht hat er gesagt, dass Sie krank sind. Eine schwere Grippe haben oder Windpocken oder die Masern.

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