Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
wir gehört haben, ist, dass er in einer Art Hippiekommune in Spanien lebt, keiner geregelten Arbeit nachgeht und sich als Lyriker versucht, den aber niemand lesen will. Was glauben Sie, wie enttäuscht wir sind!«
»Richard, bitte«, sagte seine Frau leise, »das gehört doch nicht hierher!«
»Ihr Sohn hat Sie verlassen und kümmert sich nicht mehr um Sie. Wenn Sie aber einstmals … nun, das Zeitliche segnen, dürfen Sie ihm alles vererben, was Sie mühevoll aufgebaut haben in Ihrem Leben«, sagte Fred. »Stört Sie das nicht?«
»Den Pflichtteil«, sagte Richard. »Mehr müssen wir ihm nicht hinterlassen.«
»In Ihrem Fall ist der Pflichtteil auch noch ganz beachtlich. «
»Aber seine Kinder betrachtet man doch nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Vererbens«, meinte Greta. Für ihre Verhältnisse, dachte Marius draußen, widersprach sie ihrem Mann schon auf eine geradezu aufständische Weise.
»Nun«, sagte Fred, »ich wollte jedenfalls genau dieses Problem umgehen. Wenn mich jemand enttäuscht, soll er auch keinen Pfennig von mir bekommen. Ein Adoptivkind ist genauso erbberechtigt wie ein leibliches Kind. Also wenigstens Pflichtteil. Aber das wäre mir zu viel. Wenn ich mir vorstelle«, seine Stimme wurde lauter, »wenn ich mir vorstelle, wir hätten jemanden wie diesen Marius adoptiert , dann kämen wir nie wieder aus diesem Umstand heraus! Nie! Wir
müssten ihm seine Ausbildung finanzieren, und er hätte sogar noch das Recht auf eine zweite Ausbildung, falls er plötzlich feststellt, dass sich seine Lebenspläne geändert haben! Und er wäre automatisch unser Erbe! Eine Vorstellung, bei der ich vermutlich dereinst noch in meinem Grab rotieren würde!«
Er hatte sehr heftig gesprochen, und am Tisch herrschte für ein paar Minuten ein etwas betroffenes Schweigen.
»Aber«, fragte die fremde Dame schließlich etwas schüchtern, »haben Sie ihn denn überhaupt nicht gern? Ich meine, er ist ein zwölfjähriger Junge. Ein Kind noch. Und Sie reden … entschuldigen Sie, wenn ich das sage … Sie reden fast hasserfüllt über ihn. Kann man einen zwölfjährigen Jungen hassen ?«
»Nellie!«, sagte diesmal Richard etwas pikiert. »Das geht uns doch nichts an!«
Draußen bohrte Marius die Fingernägel in seine Handflächen. Was würde Fred antworten?
Warum interessiert mich seine Antwort überhaupt ?
»Hass?«, fragte Fred.«Nun, mit dem Hass ist es wie mit der Liebe, nicht wahr? Beides lässt sich nicht befehlen, nicht steuern. Weder kann man diese Gefühle herbeizitieren, wenn sie nicht da sind, noch kann man sich ihrer entledigen, wenn sie sich in einem festgesetzt haben. Aber es ist nicht so, dass ich Marius hasse. Nein.«
Niemand in der Runde erwiderte etwas. Fred fuhr fort: »Ich verachte Marius, ja. Das kann ich nicht leugnen. Ich sehe dieses dünne, blasse Gesicht, diesen fast rachitisch anmutenden Körper, und ich sehe seine ganze verdammte Herkunft darin. Er stammt aus einer absolut asozialen Familie. Beide Eltern Alkoholiker, beide nicht in der Lage, eine Arbeitsstelle länger als eine Woche zu behalten. Völlig verkommenes Pack. Sie sind abgehauen und haben ihr damals sechsjähriges
Kind allein in der Wohnung zurückgelassen. Festgekettet im Bad. Ohne Wasser, ohne Nahrung. Er war halb tot, als ihn die Polizei fand. Glücklicherweise wurde die Familie sozialdienstlich betreut, und die verantwortliche Sozialarbeiterin hat Alarm geschlagen. Die Klassenlehrerin auch. Wären diese beiden Frauen nicht gewesen, hätte wahrscheinlich niemand mehr sein Leben retten können. Der Vater tauchte erst nach vier Wochen wieder auf, die Mutter noch später.«
»Der arme Junge«, sagte Nellie, »so jung, und er hat schon so Schlimmes mitmachen müssen!«
»Das ist die eine Seite«, sagte Fred, »die andere ist die, dass dieses unschuldige Kind, das Sie offenbar in ihm sehen, natürlich die Gene seiner Eltern in sich trägt. Die ganze Haltlosigkeit, die ganze Verderbtheit dieser Leute steckt in ihm. Und das ist es, was ich immer vor Augen habe!«
»Aber gerade über diese Frage wird in der Wissenschaft doch zunehmend intensiv diskutiert«, mischte sich Richard ein, »und bislang ohne abschließendes Ergebnis. Es ist keineswegs klar, wie weit die genetische Veranlagung unseren Charakter beeinflusst. Es gibt Stimmen, die sagen, dass unser genetisches Erbe in außerordentlich geringem Maße nur für unsere mentale und psychische Entwicklung verantwortlich ist. Weitaus bedeutsamer soll unsere jeweilige
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