Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
Dann wäre es niemandem seltsam vorgekommen, dass Sie nicht auftauchten, und niemand hätte sich darum gerissen, Sie zu sehen. Fred muss nur irgendetwas richtig Ansteckendes genannt haben.«
Auf diese Möglichkeit war er noch nicht gekommen. Klar, das hätte dem Teufel Lenowsky ähnlich gesehen. Verlogener, erfindungsreicher Dreckskerl, der er gewesen war!
»Okay«, sagte er, »okay, aber später … sie haben etwas gemerkt. Ich habe es ja gehört. Nellie und Richard haben gespürt, dass etwas nicht stimmte. Sie waren betroffen. Sie fanden schrecklich, was er sagte. Das habe ich an ihren Kommentaren gehört. Verstehst du? Ich habe mich nicht getäuscht. Ich habe es gehört !«
Sie nickte. Ihre dunklen Augen verrieten Mitgefühl. Er hoffte, dass sie es nicht nur heuchelte.
»Und das hat Hoffnung in Ihnen erzeugt. Das verstehe ich gut. Aber Sie sind nicht der Erste, der ein Opfer der Gleichgültigkeit, oder sagen wir besser: der mangelnden Zivilcourage der Leute wird. Man mischt sich nicht ein. Nachher hat man sonst nichts als Ärger am Hals. Man zieht sich auf den Standpunkt zurück, dass einen das Leben der anderen Menschen nichts angeht, und dass jeder vor seiner eigenen Tür kehren muss. Sie sagten, Sie wissen nicht, wer die Gäste an jenem Abend waren. Vielleicht gab es berufliche Verquickungen
oder sogar Abhängigkeiten zwischen diesem Richard und Fred Lenowsky. Eine Karriere, die man in Gefahr gebracht hätte. Geld, das dann nicht mehr geflossen wäre. Das sind Gründe, die – leider – ausreichen, um wegzusehen. Sie können sich nicht vorstellen, wie oft ich das bei meiner Arbeit erlebt habe.«
Er setzte sich wieder. Gott, wie seine Beine zitterten. Die Aufregung? Er hoffte, dass es nicht Hunger und Schlafmangel waren, die für seinen immer deutlicher werdenden körperlichen Abbau verantwortlich waren. Okay, dem Hunger konnte er begegnen. Aber Schlafen … Er traute den beiden Weibern nicht. Rebecca gab sich interessiert an seiner Geschichte, redete mit ihm, hörte aufmerksam zu. Aber noch vermochte er nicht zu entscheiden, ob das echt war. Oder ob sie einfach nur Angst hatte und daher versuchte, ihn bei Laune zu halten. Wenn er schliefe, würde sie vielleicht auch versuchen, sich aus ihren Fesseln zu befreien und zu fliehen, so wie Inga.
Inga! Er durfte nicht vergessen, ihre Fesseln zu überprüfen!
»Ich habe es nie wieder erlebt, dass Richard und Nellie zu Besuch kamen«, sagte er, »die Geschichte mit mir war ihnen wohl unheimlich. Sie mochten in nichts verwickelt werden. Sie verständigten niemanden. Denn niemand erschien. Niemand hakte nach. Fred Lenowsky hatte in Gegenwart von Dritten verkünden können, dass er mich verachtet, dass er Angst vor meinen Genen hat und dass er mich hart anfasst , wie er es nannte. Und nichts passierte. Niemanden kümmerte es. Niemand wollte die Hölle sehen, in der ich lebte.«
»Es ist schrecklich«, sagte Rebecca leise, »wirklich, Marius, es ist einfach schrecklich, was Ihnen passiert ist.«
Er trommelte mit den Fingern auf die Kommode, die neben ihm stand. »Das fällt dir spät auf. Verdammt spät.«
Sie seufzte leise.
»An meinem zehnten Geburtstag bekam ich einen Hund geschenkt«, sagte er unvermittelt. »Es war der einzige glückliche Moment in meiner ganzen beschissenen Kindheit. Einen Golden Retriever, jung und verspielt und natürlich bildschön. Bei den Lenowskys diente alles als Statussymbol, auch der Hund.«
»Sie hatten sich diesen Hund gewünscht?«
»Ja. Fast jedes Kind wünscht sich einen Hund, oder? Ich hatte natürlich keinen Moment lang damit gerechnet, ihn zu bekommen. Meine Wünsche wurden nie erfüllt. Zu meinen Geburtstagen bekam ich immer nur praktische Dinge, die sowieso hätten gekauft werden müssen. Socken und Unterwäsche und Handschuhe. Solches Zeug eben. Aber an meinem zehnten Geburtstag … da stand ein Hundekörbchen vor meiner Tür. Darin lag Clarence. Ich konnte es nicht fassen.«
»Warum, glauben Sie, hat Fred Lenowsky Ihnen plötzlich einen doch so bedeutsamen Wunsch erfüllt?«
Marius lächelte. Es war ein Lächeln voller Verbitterung und Enttäuschung. »Du meinst, es hätte sich vielleicht etwas geändert? In seiner Haltung mir gegenüber? Ja, das habe ich im ersten Moment auch geglaubt. Ich war voller Glückseligkeit. Dieser Hund erschien mir wie der Anfang zu einem neuen Leben.«
Sie wusste natürlich, dass es so nicht gewesen war. »Aber Sie hatten sich geirrt.«
»Richtig. Gründlich geirrt. Warum er den Hund
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