Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
Zukunft. Die Vorstellung, ein Kind könnte ihn irgendwann beerben, hat ihn ja verrückt gemacht. Denn dann hätte dieses Kind ja zuletzt, nämlich an Lenowskys Grab, in seinen Augen noch einen Sieg errungen, und das wäre ein fürchterlicher Gedanke für ihn gewesen. Deshalb kam eine Adoption für ihn nicht in Frage. Aber ein Pflegekind … das war genau das Richtige für ihn. Verbunden übrigens auch noch mit jeder Menge gesellschaftlicher Anerkennung für sein großherziges Tun. Es müssen gute Jahre für ihn gewesen sein.«
Der Schmerz war so stark, dass er ihn fast nicht aushalten konnte. Und das Bedürfnis, in Tränen auszubrechen. Sich von Rebecca in die Arme nehmen und trösten zu lassen.
Ich darf nicht vergessen, dass sie meine Feindin ist. Sie hat mich verraten. Sie hat auf der Seite der anderen gestanden. Auch wenn sie jetzt versucht, verständnisvoll zu erscheinen.
Gespielt gleichmütig – denn in seinem Inneren tobte die Verzweiflung so unvermindert heftig, als sei kein Tag vergangen seit jener Zeit – sagte er: »Fred änderte übrigens die Rangordnung schließlich. Clarence war nicht mehr der Letzte. Das war ich dann.«
»Oh, Marius …«
Er atmete schwer. » Du bist der Letzte! Das sagte er nun fast ebenso oft am Tag, wie er sagte: Ich stehe an der Spitze! Ich durfte erst essen, wenn der Hund gegessen hatte. Ich lag elend vor Hunger im Bett. Er holte mich mitten in der Nacht in die Küche. Clarence und ich mussten zusehen, wie er sich
Spiegeleier briet und sie genüsslich verzehrte. Wir waren so schrecklich hungrig. Dann wurde Clarence seine Schüssel hingestellt. Und erst wenn er sie bis zum letzten Krümel ausgeleckt hatte, bekam ich mein Brot. Ohne Spiegeleier. Wenn ich Glück hatte, mit etwas Butter. Ich war der Letzte. Ich war der Letzte. Ich war der Letzte! «
Er schrie diese Worte. Und dann, ohne eine Chance, es zu verhindern, brach er in Tränen aus.
Er krümmte sich vor Schmerzen.
»Ich hätte sie lieben können! Rebecca, wenn sie nur ein bisschen anders gewesen wären, ich hätte sie geliebt. Ich hätte sie geliebt wie meine Eltern. Ich war ein Kind. Ich habe mich so sehr nach Liebe gesehnt. Ich habe mich so danach gesehnt, selbst zu lieben. Ich hätte Fred und Greta alles gegeben. Alles! Meine Liebe, mein Vertrauen, meine Zärtlichkeit. Ich wollte es so sehr! Ich wollte!«
Er schluchzte so heftig, dass er zitterte.
Er sehnte sich nach Rebeccas Umarmung.
Aber sie konnte nicht. Sie war an Händen und Füßen gefesselt und konnte seinen Schmerz nur hilflos beobachten.
2
Die Lawine war losgebrochen. Jetzt würde nichts und niemand sie mehr aufhalten. Die Frage war, was alles sie am Ende zerstört haben würde.
Wahrscheinlich mein Leben, dachte Clara, das wird es sein. Mein Leben wird in Trümmern liegen.
Sie hatte nach dem Gespräch mit Agneta wie paralysiert auf den Ausbruch des Sturms gewartet, auf das Hereinbrechen der Katastrophe. Dann war der Anruf eines Kriminalkommissars
namens Kronborg erfolgt, der mit ihr einen persönlichen Termin für den nächsten Tag vereinbart hatte. Und damit hatte sich das Rad zu drehen begonnen.
Auf eine ganz absurde und unsinnige Weise hatte sie gehofft, sie werde das alles irgendwie an Bert vorbeischleusen können, ohne dass er etwas mitbekam, aber dann erlebte er schon Kronborgs Anruf mit, weil er ausnahmsweise einmal früher als sonst von der Arbeit nach Hause gekommen war.
»Wer war denn das?«, fragte er arglos, und sie hatte sich einen Ruck gegeben und geantwortet: »Ein Kommissar von der Kripo. Er wird mich morgen früh besuchen und ein paar Fragen stellen.«
»Wieso das denn? Was hast du mit der Kripo zu tun?«
Sie hatte ihn nicht angesehen, während sie hastig und ziemlich verworren von Agnetas und Sabrina Baldinis Verdacht, von dem kleinen Marius, der undurchsichtigen Geschichte um seine Pflegestelle berichtete. Von der Rolle, die sie selbst dabei gespielt hatte.
Bert hatte mit wachsender Fassungslosigkeit zugehört.
»Kindesmisshandlung? Habe ich das richtig verstanden? Du hast damals geholfen, eine Kindesmisshandlung zu decken? «
Sie hatte versucht, ihm zu erklären, dass dies heute so klar zu beurteilen war, dass es aber damals für sie viel schwieriger gewesen war, die Situation richtig einzuschätzen und zu überblicken. Er bemühte sich, das zu verstehen, aber seine Reaktion hatte ihr einen Vorgeschmack darauf gegeben, wie auch andere Leute über sie denken würden. Sie hat geholfen, eine Kindesmisshandlung zu decken.
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