Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
richtig?«
»Sie nahm nicht teil. Stella Wiegand war zu diesem Zeitpunkt bereits sehr krank. Krebs. Sie hatte sogar für eine gewisse Zeit aufhören müssen zu arbeiten. In der Zeit lag die Betreuung der Familie Peters bei meiner Kollegin Agneta. Das ist die andere Frau, die …«
»Ich weiß. Die auch Drohbriefe erhalten hat.«
»Jedenfalls hatte Stella noch den Kindesentzug veranlasst. Aber buchstäblich einen Tag später ist sie wieder in die Klinik gegangen. Der Krebs war zurückgekommen. Sie starb dann ein Dreivierteljahr später.«
»Fand die Fallbesprechung dennoch statt?«
Clara schüttelte den Kopf. »Nein. Meine Abteilungsleiterin erklärte, sie habe bereits einen Platz bei einer Pflegefamilie für Marius. Sie gab mir den Namen und die Adresse und sagte, ich solle alles veranlassen.«
»Wunderte Sie das?«
»Ja. Das schon. Aber dadurch, dass Stella ausfiel, die für die Fallbesprechung besonders wichtig gewesen wäre, wunderte
es mich auch wieder nicht so.« Sie versuchte sich an ihre Empfindungen von damals zu erinnern. Hatte sie sich genug gewundert? Hätte sie sich mehr wundern müssen?
»Durch Stellas Krankheit war der Ablauf einfach ohnehin ein wenig gestört«, sagte sie.
Kronborg nickte. »Ich verstehe. Was taten Sie als Nächstes? «
»Ich bestellte die Lenowskys ins Jugendamt. Das waren die Leute, die mir von meiner Abteilungsleiterin genannt worden waren.«
»Und?«
Sie zögerte. Bert hatte ihr, ebenso wie vorher schon Agneta, zur völligen Offenheit der Polizei gegenüber geraten. Du schwebst in echter Gefahr. Es geht jetzt nicht mehr um deinen guten Ruf. Es geht möglicherweise um dein Leben. Wenn du genügend Dreck am Stecken hast, dass ein geisteskranker Killer eine Mordswut auf dich haben könnte, musst du das sagen. Die Polizei muss deine Situation richtig einschätzen können.
»Die Lenowskys gefielen mir nicht«, sagte sie schließlich.
»Warum nicht?«
»Zum einen waren sie zu alt. Und zwar nicht nur von ihren Geburtsdaten her. Sie waren auch … alt in ihrer Einstellung. Verstehen Sie? Fred Lenowsky war Anfang fünfzig. Seine Frau Ende vierzig. Aber von ihrer ganzen Art waren sie … wie mindestens … Mitte sechzig.«
»Woran machten Sie das fest?«
»Sie waren so konservativ. Er der Patriarch, sie die graue Maus, die den Mund hält, wenn er spricht. Sie waren beide sehr teuer und sehr gediegen gekleidet. Ich konnte sie mir nicht vorstellen, wie sie mit einem sechsjährigen Jungen herumtollen oder zum Beispiel einen Kindergeburtstag veranstalten. «
»Und was noch? Sie sagten, zum einen waren sie zu alt. Was gefiel Ihnen außerdem nicht?«
»Es ist schwierig …« Es fiel ihr tatsächlich schwer, sich zu erinnern, obwohl sie seit Agnetas gestrigem Anruf über nichts anderes nachgedacht hatte als über die Zeit damals. Vielleicht hatte sie viel mehr verdrängt, als sie wahrhaben wollte. Aber es hing auch damit zusammen, dass es wirklich schon in jenen Tagen schwierig gewesen war. Sie hatte eine instinktive Abneigung gegen Lenowsky gehabt, sie jedoch nicht plausibel begründen können.
»Ich mochte Fred Lenowsky nicht besonders. Er war mir einfach auf den ersten Blick unsympathisch. Aber ich wusste nicht, warum. Er war höflich, er war freundlich … er lächelte viel. Ich war ausgebildet, Menschen in ihrer Qualität als Pflegeeltern zu beurteilen, und ich war es gewohnt, meine persönlichen Gefühle dabei auszuschalten. Es ging nicht darum, ob ich jemanden mochte oder nicht. Es ging um seine Eignung. Ich durfte mich nicht zu stark einbringen.«
»Und wie sah es mit der Eignung der Lenowskys aus?«
»Ich hielt die beiden nicht für geeignet.«
»Weshalb?« Er blieb stur. Er wollte, dass sie auf den Kern der Sache kam.
»Bei meiner Abteilungsleiterin sagte ich, sie seien in meinen Augen zu alt. Aber in Wahrheit … Ich hatte schon manchmal Bewerber unsympathisch gefunden. Ihnen dennoch guten Gewissens ein Kind zugewiesen, weil ich wusste, sie würden mit Kindern gut umgehen. Ich konnte durchaus von meinen persönlichen Gefühlen abstrahieren. Diesmal … ich weiß auch nicht …« Sie sah Kronborg fast verzweifelt an. »Lenowsky war mir mehr als unsympathisch. Ich konnte ein ungutes Gefühl einfach nicht ausblenden. Es gelang mir nicht.«
»Verstehe. Kann man es so ausdrücken: Ihr Instinkt sagte Nein ?«
»Ja.« Er hatte es getroffen. »Mein Instinkt sagte geradezu inbrünstig Nein .«
»Aber …«
»Normalerweise legte meine Chefin sehr viel Wert auf meine
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