Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
Meinung. Diesmal nörgelte sie an mir herum. Ich hätte überhaupt keine Argumente, ich würde völlig unprofessionell agieren … und schließlich fragte ich mich selbst, ob sie nicht vielleicht Recht hatte.«
»Sie waren wie alt?«
»Dreiundzwanzig.«
»Sehr jung.«
»Ja. Ich war eigentlich eine recht selbstbewusste Person, aber mir kamen immer mehr Zweifel. Und schließlich rückte meine Chefin auch mit der Wahrheit heraus: dass die Lenowskys Wunschkandidaten auf höchster Ebene waren. Dass sie gewissermaßen vom Sozialdezernenten persönlich den klaren Auftrag hatte, das nächste Kind – und das war der kleine Marius – an Fred und Greta Lenowsky als Pflegekind zu vermitteln. Der Sozialdezernent hatte durchklingen lassen, in dieser Sache Anweisung vom Büro des Oberbürgermeisters direkt bekommen zu haben.«
Kronborg pfiff leise durch die Zähne. »Sah ja wohl nach einem erstklassigen Gemauschel unter Freunden aus, oder?«
»Natürlich. Das kapierte ich auch gleich. Andererseits … ließ dieser Umstand allein die Lenowskys ja nicht zu einer schlechten Wahl werden. Außerdem …«
»Ja?«, fragte Kronborg, als sie stockte.
»Es ist nicht so, dass solche Pflegestellen reich gesät wären«, erklärte Clara. »Es gibt nicht viele Menschen, die sich auf das Leben mit einem möglicherweise schwer geschädigten Kind aus schwierigstem Milieu einlassen. Noch dazu stets unter dem Vorzeichen, das Kind jeden Augenblick wieder hergeben zu müssen, weil sich in der Herkunftsfamilie
das Blatt zum Besseren gewendet hat. Was ich sagen will, ist: Die Lenowskys abzulehnen hätte damals bedeutet, dass es zunächst einmal für Marius überhaupt keinen Platz bei einer Familie gegeben hätte. Er hätte auf unabsehbare Zeit im Heim bleiben müssen.«
Kronborg beugte sich ein Stück vor. Er blickte Clara aus freundlichen Augen an. Sie merkte, dass sie unter seinem Blick ruhiger zu werden begann.
»Sie müssen sich nicht so heftig und so nervös verteidigen, Clara.« Er nannte sie einfach beim Vornamen, aber auch das tat ihr gut. »Ich kann mir die Problematik Ihrer damaligen Situation sehr gut vorstellen. Ich kann die Schwierigkeit des Abwägens nachvollziehen. Ich kann Ihr Handeln – nämlich das sechsjährige Kind schließlich den Lenowskys zu überantworten – verstehen. Wirklich. Bis zu diesem Punkt könnte ich mir denken, als Dreiundzwanzigjähriger in Ihrer damaligen Lage ganz genauso gehandelt zu haben.«
Bis zu diesem Punkt …
»Ich schrieb einen positiven Eignungsbericht«, sagte Clara leise, »aber mir war bewusst, dass er mir sozusagen diktiert worden war.«
»Marius kam dann zu der Pflegefamilie. Womit jedoch Ihr Part nicht endete?«
»Nein. Ich war ja nun die Betreuerin. Ich blieb mit den Lenowskys in Kontakt, machte viele Hausbesuche dort. Das eigenartige Gefühl dabei war nur … ich weiß nicht, wie ich das erklären soll: Es war nie so direkt ausgesprochen worden, aber es war irgendwie von vornherein klar, dass ich bitteschön kein Haar in der Suppe finden möge. Lenowsky war ein guter Freund des Oberbürgermeisters. Er wurde geschützt. Das war spürbar.«
»Hätten Sie denn sonst ein Haar in der Suppe gefunden?«, fragte Kronborg.
Wieder zögerte Clara. Es war ihr alles so unklar und verschwommen erschienen.
»Eigentlich nicht. Es schien alles in Ordnung. Die Lenowskys hatten ein schönes Haus in einer guten Gegend. Marius hatte ein eigenes Zimmer. Er war gut gekleidet. Lenowsky nahm ihn im Sommer immer zum Segeln mit, und offenbar fand Marius an diesem Sport großen Gefallen. Oft traf ich auch Freunde bei ihm an. Er schrieb sehr gute Noten … ja, daran hielt ich mich am meisten fest.« Es war ihr gerade wieder eingefallen, es hatte damals ungeheure Bedeutung für sie gehabt. »Kinder, denen es schlecht geht, die verstört sind und unglücklich, sacken fast immer in der Schule ab. Marius war aber durchgehend ein guter Schüler. Seine Lehrer bestätigten, dass er ohne besondere Probleme dem Unterricht folgte. Es hatte nicht den Anschein, als werde ein besonderer Lernzwang auf ihn ausgeübt.«
»Sie machten sich dennoch Gedanken?«
»Ich hatte ein dummes Gefühl. Aber ich redete mir ein, das komme eben daher, dass ich in der ganzen Sache von Anfang an … genötigt worden war. Meine Urteilskraft, so meinte ich, war dadurch getrübt.«
»Marius selbst erschien Ihnen als glückliches Kind?«
Jetzt lachte Clara, aber es war ein zynisches, kein fröhliches Lachen. »Ich bitte Sie! Nein.
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