Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
ich brauche unbedingt Wasser. Bitte.«
Er war in Gedanken versunken gewesen, hatte ausgesehen wie ein Gespenst. Hohlwangig, unnatürlich bleich. Der Bart bedeckte inzwischen in dichten, dunklen Stoppeln seine untere Gesichtshälfte. Unter den Armen verliefen riesige Schweißringe auf seinem T-Shirt. Er roch, dass einem schlecht werden konnte. Aber das Schlimmste waren seine Augen: dunkel und leer.
Sie fragte sich, ob sie ihn mit ihren Worten überhaupt erreichte.
Unverständliche Dinge murmelnd, war er von Fenster zu Fenster gegangen, hatte hinausgesehen, hatte die geröteten Augen vor der Helligkeit des Tages zusammengekniffen. Inga ahnte, in welch einen Brutkasten sich das Zimmer verwandeln würde, je weiter der Tag voranschritt.
»Marius, kannst du nicht die Läden schließen? Oder die Fenster öffnen? Einen Spalt wenigstens? Ich ersticke sonst hier drin.«
Er warf ihr einen listigen Blick zu. »Ich lasse die Fenster bestimmt nicht offen. Du willst um Hilfe schreien!«
Auf diese Idee konnte nur ein Verrückter kommen. Wer hätte sie denn hören sollen?
»Ich schreie bestimmt nicht. Aber wenn du Angst hast, dann schließe wenigstens die Läden. Bitte!«
»Ich komme in ein paar Stunden runter«, versprach er.
Sie hätte darauf gewettet, dass er das vergessen würde.
Er hatte ihre Fesseln überprüft. Da sie das geahnt hatte, hatte sie in der Nacht keine weiteren Versuche zu ihrer Lockerung unternommen. Ihre Chance war der Tag. Gestern hatte er sich über viele Stunden nicht blicken lassen, sie hatte ihn oben brabbeln und Ewigkeiten auf und ab gehen hören, er hatte manchmal geschrien und einmal geweint. Einmal nur war er bei ihr aufgetaucht und hatte sie endlich zur Toilette gebracht. Sie hatte gehofft, er werde vor der Tür warten, aber natürlich riskierte er es nicht, sie durch das von ihm eingeschlagene Fenster entkommen zu lassen.
»Ich kann nicht, wenn du daneben stehst«, hatte sie gesagt.
»Hab dich nicht so. Wir sind schließlich verheiratet.«
Was hat das denn damit zu tun?, hätte sie gern gefragt, aber sie unterließ es, um seine einigermaßen ausgeglichene Stimmung nicht zu gefährden. Natürlich klappte es dann doch. Sie hatte viel zu lange warten müssen, als dass sie sich jetzt aus Schamhaftigkeit noch hätte zurückhalten können.
Als sie sich die Hände wusch, blickte sie ihr Spiegelbild an. Sie sah entsetzlich aus. Ihr rechtes Auge war halb zugeschwollen und dunkelviolett verfärbt, überhaupt schien ihr die ganze rechte Gesichtshälfte verschwollen und deformiert. Ihre Unterlippe war aufgeplatzt und viel dicker als die Oberlippe.
Ich sehe aus wie nach einer missglückten Schönheitsoperation, hatte sie gedacht.
Wieder im Zimmer, hatte er sie erneut gefesselt, sie aber auch dafür gelobt, dass sie zuvor nicht wieder versucht hatte, sich zu befreien.
»Braves Mädchen«, hatte er gesagt. Sie hoffte, dass er anfing, sich in Sicherheit zu wiegen.
Auch in der Nacht war er hin und her gegangen, hatte offenbar geredet und geredet. Er schien sich überhaupt keinen Schlaf zu gönnen. Darin mochte eine Chance liegen: Irgendwann musste er einfach zusammenklappen.
Ihr blieb nichts übrig, als darauf zu bauen, dass er auch an diesem Tag das Kontrollieren vergessen würde. Er schien Rebecca endlose Vorträge zu halten, gelegentlich auch zu debattieren, und ganz offenbar hinderte ihn dies daran, regelmäßig zu ihr herunterzukommen. Wenn es ihr gelang, sich bis zum Abend zu befreien, konnte sie vielleicht im Schutz der Dunkelheit entwischen.
Er hatte ihr am Morgen schließlich doch noch ein Glas Wasser gebracht, und sie hatte es gierig leer getrunken.
Zu diesem Zweck befreite er ihre Hände, schließlich auch ihre Füße, weil sie wieder zur Toilette musste.
»Meine Güte«, sagte er, »dabei trinkst du doch gar nicht viel.«
Sie musste sich an ihm festhalten, während sie den Flur überquerte. Ihre Beine schmerzten so, dass sie hätte heulen mögen. Was geschah mit ihrem Körper? Sollte es ihr irgendwann gelingen, sich zu befreien, würde sie dann überhaupt noch in der Lage sein zu laufen?
Das Schlimmste war, dass sie ständig das Gefühl hatte, einen Fremden vor sich zu haben. Es war, als kenne sie diesen Mann überhaupt nicht. Sie forschte nach Vertrautem in seinen Zügen. Da waren seine Nase, sein Mund. Die Form seines Kopfes. Alles bekannt, und doch so sehr verändert. Vielleicht lag es an den Augen. Sie waren so erschreckend leer.
Blicklos. Diese Augen mochten ausreichen, ihn
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