Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
Vielleicht hatte er auch die eine oder andere Nacht auf dem Schiff geschlafen. Und dort zumindest noch Wasserflaschen gefunden. Wenn er schon nichts zu essen gehabt hatte, so hatte er doch trinken können.
Wer, um Himmels willen, rief Marius an?
Aber im Grunde war das auch gleichgültig. Das Schlimme war, dass ihn das Läuten möglicherweise nach unten locken würde.
Sie lauschte angstvoll nach oben. Die ganze Zeit über hatte sie seine Schritte gehört. Jetzt schien er stehen geblieben zu sein.
Auch das Handy war verstummt. Aber eine halbe Minute später fing es erneut an zu klingeln.
Sie hörte, wie Marius die Treppe herunterkam. Sie hielt den Atem an.
»Hallo?«, sagte er. Dann wiederholte er zweimal: »Hallo? Hallo?« Er sagte nichts weiter, offenbar hatte der unbekannte Anrufer aufgelegt, ohne sich zu melden.
Bitte, komm jetzt nicht hier herein. Bitte geh wieder nach oben!
Marius murmelte irgendetwas vor sich hin. Schien unschlüssig auf dem Gang herumzustehen. Aber dann hörte Inga seine Schritte auf der Treppe. Er verschwand wieder nach oben.
Sie hatte die ganze Zeit über nicht geatmet. Das merkte sie erst jetzt. Sie holte tief Luft.
Und in diesem Moment hörte sie, wie er umkehrte.
Er lief die Treppe herunter. Ihm schien noch etwas eingefallen zu sein.
Das ist das Ende, dachte sie.
4
»Und die wollen überhaupt nichts Konkretes zu deinem Schutz unternehmen?«, fragte Bert ungläubig.
Er war gerade von der Arbeit gekommen, hatte sich umgezogen und saß nun in Shorts und kurzärmeligem Hemd auf der Veranda. Es war halb acht am Abend, aber immer noch sehr heiß. Das Thermometer neben der Haustür berührte knapp die Dreißig-Grad-Marke.
»Was sollen sie schon unternehmen?«, fragte Clara zurück. Sie hatte Marie ins Bett gebracht und kam mit zwei Bierflaschen und zwei Gläsern hinaus.
Bert seufzte genussvoll. »Das ist genau das Richtige. Gott, ist das ein heißer Sommer!«
»Wenn ein Sommer verregnet ist, gefällt’s dir auch nicht«, sagte Clara.
»Ich habe mich ja gar nicht beschwert. Aber hör mal, hast du diesem Kronberger …«
»Kronborg.«
»Kronborg. Hast du ihm nicht gesagt, du willst Polizeischutz? «
»Aber, Bert, so viele Leute haben die gar nicht. Das weiß ich noch von meiner Arbeit her. Ich hatte so oft mit Menschen zu tun, die Schutz gebraucht hätten, aber dafür fehlen die Mittel.«
»Und wofür zahlen wir unsere Steuern?«
Er sah sie empört an. Er war ein netter Mann, fand Clara,
aber manchmal nervte sie sein Gerede. Stammtischniveau, wie sie hin und wieder dachte. Ihre Mutter hatte vor der Hochzeit gesagt, Bert sei zu einfach gestrickt für sie. Aber Mama hatte gut reden. Clara war nicht mehr jung gewesen, und ob sich ein anderer gefunden hätte …
»Es sind ja seit einiger Zeit keine Briefe mehr gekommen«, sagte sie schwach.
»Aber Kronborg hält dich für gefährdet?«
»Ja.«
»Ich möchte wirklich einmal wissen, worin eigentlich dein Fehler damals bestanden hat!«, ereiferte sich Bert. »Du hast dich nach deiner Vorgesetzten gerichtet. Was hättest du anderes tun sollen? Wenn jemand verantwortlich ist, dann sie!«
»Sag das dem Killer«, gab Clara zurück. Sie merkte, dass sie Kopfweh bekam. Wie so oft wollte Bert die Welt nach seinen persönlichen Vorstellungen geordnet und geregelt wissen. Wie so oft scherte sich die Welt nicht darum.
Kronborg war bis zum Schluss verständnisvoll geblieben. Er hatte sie nicht angegriffen. Aber zeitweise hatte Clara das Gefühl gehabt, dass in seinem Schweigen mehr Verurteilung lag, als wenn er das, was er dachte, in Worte gefasst hätte.
»Was hatte Marius Ihnen erzählt?«, hatte er gefragt.
Sie hatte eine Weile gebraucht, um ihm antworten zu können, weil die Tränen sie zu überwältigen drohten. Nie würde sie den noch sehr kalten Vorfrühlingstag vergessen, an dem sie wieder einmal die Familie Lenowsky aufgesucht hatte. Die ersten Schneeglöckchen sprossen, aber sonst war noch alles winterlich kahl und trostlos. Lenowsky war freundlich und zuvorkommend gewesen, hatte viel geredet und schöne Worte zu setzen gewusst, aber Clara hatte das Gefühl gehabt, nicht wirklich etwas zu erfahren. Marius war noch in der Schule gewesen. Nachmittäglicher Sportunterricht. Lenowsky hatte ihr das Halbjahreszeugnis des Jungen gezeigt.
Wie immer war es ausgezeichnet. Wie immer hatte sie versucht, sich damit zu beruhigen.
Marius war ihr begegnet, als sie das Grundstück der Lenowskys bereits verlassen hatte. Die Straße war bei
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