Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
schroff, nur darum bemüht, dass niemand die Wand durchdrang, die sie zwischen sich und dem Rest der Welt errichtet hatte. Sie wunderte sich nicht, dass Maximilian schließlich abgerauscht war. Die Frage war, ob er sich nicht doch noch einmal melden würde. Anrufen vielleicht, sich dann wundern, dass niemand an den Apparat ging, und sofort angereist kommen. Oder war das nur ein schöner, aber völlig unrealistischer Wunschtraum von ihr? Rebecca hatte sich so erfolgreich vor der Welt zurückgezogen, dass sie wahrscheinlich ein Jahr tot sein konnte, ohne dass jemand etwas merkte.
Außer Maximilian.
Aber der mochte so gekränkt sein, dass er Wochen verstreichen ließ, ehe er sich rührte. Falls er es überhaupt noch tat.
Maximilian! Wenn du wüsstest! Wir brauchen dich. Rebecca braucht dich! Ruf an! Ruf doch bitte an!
Aber vielleicht brachte es auch gar nichts, wenn er anrief. Würde es ihn bei einer Frau wie Rebecca überhaupt wundern, wenn sie nicht ans Telefon ging? Sie mochte depressiv auf der Terrasse sitzen und über das Meer starren und auf nichts reagieren. Ob Maximilian sofort ein Unglück vermuten und eine Reise von über tausend Kilometern antreten würde?
Ihr kamen schon wieder die Tränen, weil sie begriff, wie klein die Hoffnung war, dass Maximilian als Retter in der Not herbeieilen würde. Und das hieß, dass es praktisch überhaupt keine Hoffnung mehr gab.
Es gibt nur mich. Ich bin meine einzige Hoffnung. Wenn ich mich befreien und flüchten kann, haben wir eine Chance.
Sie fuhr fort, ihre Fesseln zu dehnen. Obwohl ihr der Schweiß in Strömen über das Gesicht lief und ihre Kleider nass waren, ließ sie in ihren Anstrengungen nicht nach. Sie hatte einen Rhythmus gefunden, in dem sie ihre Glieder dehnte. Sie bemühte sich, völlig auf diesen Rhythmus konzentriert zu bleiben. Das half ihr, die quälenden Gedanken um das Ende dieses Dramas ab und zu in den Hintergrund zu schieben.
Und jetzt wurde es Abend, die Sonne stand so tief, dass sie direkt zum Fenster hereinschien. Es war so heiß, so heiß, dass man glaubte zu sterben. Aber es konnte nicht mehr lange dauern. Inga kannte inzwischen die Abläufe. Noch etwa zwanzig Minuten, und die Sonne würde nicht mehr das Fenster treffen. Das würde ein winziges bisschen Erleichterung bringen. Sie sehnte sich nach dem kühleren, salzig schmeckenden Wind, der abends vom Meer heranstrich. Er würde sie heute nicht erreichen. Die Fenster waren hermetisch verschlossen,
und inzwischen konnte sie auch nur noch beten, dass es Marius auf gar keinen Fall in den Sinn käme, nach ihr zu schauen.
Denn ihre Fesseln hatten sich deutlich gelockert. An den Füßen, wie auch an den Armen. Sie schätzte, dass es noch zwei Stunden dauern mochte, dann könnte es ihr gelingen, sich zu befreien.
Ihr Herz ging wie rasend. Sie wusste, dass sie alles auf eine Karte setzte. Wenn Marius entdeckte, was sie den ganzen Tag über getrieben hatte, würde er außer sich geraten. Für ihn war sie ohnehin schon eine Verräterin; einen zweiten Versuch, ihn zu hintergehen, würde er nicht verzeihen. Beim ersten Mal hatte er sie fast bewusstlos geschlagen.
Sie war überzeugt, diesmal würde er sie töten.
Lass es gelingen, lieber Gott. Bitte!
Die Sonne hatte gerade den Baum erreicht, der das Haus gegen sie abschirmte, und Inga atmete auf, weil wenigstens die Strahlen sie nicht mehr trafen, wenn auch das Zimmer noch immer ein Backofen war, da klingelte das Telefon. Leise und gedämpft.
Sie erstarrte, blickte voller Entsetzen und Verwirrung auf den Apparat und stellte im selben Moment fest, dass er es nicht war, der läutete. Sie war so dumm! Den ganzen Tag hatte sie gewünscht, Maximilian würde anrufen, dabei konnte er es gar nicht. Die Telefonschnur war schließlich durchschnitten. Niemand würde zu ihnen durchdringen.
Es musste ein Handy sein, das klingelte, und es schien sich draußen im Gang zu befinden.
Inga leckte sich über die rissigen Lippen, die mit einem Schlag noch trockener schienen als zuvor. Rebecca besaß ihres Wissens gar kein Handy. Sie selbst hatte ihres oben im Zimmer. Es musste das von Marius sein. Sie erkannte nun auch den Klingelton.
Das Handy von Marius.
Es war auf dem Schiff gewesen, auf der Libelle . Unten in der Kajüte, in der Ablage. Sie hatte es dort liegen gelassen an jenem schrecklichen Tag, als der Mistral getobt hatte und Marius durchdrehte und schließlich über Bord ging. Er musste es sich nachher vom Schiff geholt und mit hierher gebracht haben.
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