Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
Glücklich erschien er mir überhaupt nicht. Aber damit war er absolut kein Ausnahmefall. Kinder mit seinem Schicksal – also jahrelange Vernachlässigung in der Familie, häufig genug schwere Misshandlung, schließlich die Wegnahme, die, bei allem Leid, das diese Kinder in ihrer Herkunftsfamilie erlebt haben, als traumatisierend empfunden wird – sind nicht glücklich. Jahrelang nicht. Sie können depressiv sein, essgestört, gewalttätig, suizidgefährdet oder alles auf einmal. Manche klauen wie die Raben, andere passen sich bis zur Selbstaufgabe an die neue
Umgebung an und werden geradezu unsichtbar. Viele sind Bettnässer bis in die späte Pubertät hinein. Manche schneiden sich immer wieder mit einem Messer die Arme und Beine auf. Und manche …«
Sie verstummte. Kronborg nickte aufmunternd. »Ja?«
»Manche denken sich die verrücktesten Geschichten aus. Über Misshandlungen, die ihnen in der Pflegefamilie zugefügt werden. Über sexuellen Missbrauch. Über Anstiftung zu Straftaten durch die Pflegeeltern. Sie würden es nicht glauben, was ich da schon alles gehört habe.«
»Ich verstehe. Erzählte auch Marius … solche Geschichten? «
»Nein. Zunächst jedenfalls nicht.«
»Wie stuften Sie ihn ein?«
»Als depressiv. Was mich aber nicht im Mindesten wunderte. Man hatte ihn an die Toilette gefesselt und …« Das hatte sie schon gesagt. Sie verstummte.
»Ich weiß«, sagte Kronborg.
»Er erschien mir überangepasst und ängstlich. Er wollte immer alles richtig machen. Aber, wie gesagt, auch das hatte ich schon oft bei anderen Kindern erlebt.«
»Dennoch blieb in diesem Fall ein dummes Gefühl.«
»Das ich aber mir allein zuschrieb. Ich konnte Lenowsky immer noch nicht leiden, aber wenn er über Marius sprach, dann klang das intelligent, besorgt und … irgendwie aufrichtig. Ich erinnere mich, dass er sich große Gedanken wegen Marius’ Essstörungen machte. Tatsächlich war das Kind erschreckend dünn. Er lehnte wohl die meiste Nahrung ab, zu jedem Bissen musste er überredet werden. Fred Lenowsky schilderte oft, mit wie viel Sorgfalt und Mühe seine Frau kochte, dass sie aber selten bei Marius damit ankam.«
»Und Sie sagten sich, dass alles in Ordnung sei? Den Umständen entsprechend, meine ich.«
»Ich sagte es mir hundertmal am Tag«, sagte Clara.
»Hundertmal am Tag«, wiederholte Kronborg sinnierend. »Ihre Alarmglocke schrillte leise vor sich hin, und Sie versuchten sie zu übertönen. Kann man das so sagen?«
»Ja«, antwortete Clara fast flüsternd.
Einen Moment lang herschte Schweigen zwischen ihnen.
Dann sagte Kronborg unvermittelt: »Marius erzählte keine Geschichten über Misshandlungen. Noch nicht, wie Sie gerade sagten. Das heißt, es änderte sich. Er fing an zu reden? «
Sie starrte ihn an. Plötzlich wandte sie sich ab, aber es konnte Kronborg nicht entgehen, dass ihr die Tränen in die Augen schossen.
»Er bat mich um Hilfe, Herr Kommissar«, sagte sie mit erstickter Stimme, »er bat mich um Hilfe, und ich wusste, dass er nicht lügt. Ich wusste es einfach. Aber ich habe ihn im Stich gelassen. Und jetzt werde ich dafür bestraft werden. Mein ganzes Leben wird kaputtgehen. Ich habe ein wehrloses Kind im Stich gelassen, und wissen Sie, was mir vorhin plötzlich klar wurde?« Sie sah ihn jetzt an. Ihre Augen waren rot.
»Mir wurde klar, dass ich immer gewusst habe, es würde mich einholen«, sagte sie.
3
Ein endlos scheinender, langer und heißer Tag neigte sich seinem Ende zu. Inga, noch immer gefesselt im Wohnzimmer sitzend, hatte die Zeiger der Uhr Stunde um Stunde beobachtet, ihr langsames Vorankriechen, ihr unerträgliches Schleichen. Noch nie vorher in ihrem Leben, so schien es
ihr, hatte sie so inbrünstig das Ende eines Tages herbeigesehnt. Marius hatte die Markise auf der Veranda nicht heruntergelassen, und auch die Fensterläden waren offen geblieben.
Ihr war übel gewesen vor Durst und Hunger, und in all ihren Gliedern brannte und kribbelte es. Ihre Beine schmerzten entsetzlich, die Füße waren dick angeschwollen, das konnte sie sowohl fühlen als auch sehen. Furchtbare Gedanken gingen ihr durch den Kopf: Sie konnte eine Thrombose bekommen, ihr Kreislauf konnte zusammenbrechen. Wenn sie nicht endlich Wasser bekäme, würde sie dehydrieren.
»Marius«, hatte sie gefleht, als er am Morgen bei ihr aufgetaucht war, »ich muss mich ein bisschen bewegen. Schau dir mal meine Füße an … meine Fesseln sind zu eng. Ich glaube, mir sterben alle Glieder ab. Und
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