Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
mehr. Ich will nicht mehr leben. Es wird nicht besser, und ich kann diese Morgen nicht mehr ertragen.
Sie dachte dies voller Ruhe, und sie spürte, wie die Angst wich und das Gefühl der Einsamkeit an Schrecken verlor, weil es absehbar geworden war.
Sie räumte den Tisch wieder ab, machte Ordnung in der Küche, ging ins Schlafzimmer, breitete die bunte Tagesdecke über das Bett. Das Schlafzimmer befand sich im ersten Stock des Hauses, und aus dem Fenster hatte man einen herrlichen
Blick über das Meer. Weiße Gardinen bauschten sich im Morgenwind. Auf der Kommode stand ein silbergerahmtes Foto, das sie und Felix am Tag ihrer Hochzeit zeigte, beide strahlend, verliebt, überglücklich. Um sie herum war alles verschneit, sie hatten im Januar geheiratet, und in der Nacht vor der Hochzeit war Neuschnee gefallen. Viele der geladenen Gäste, die in anderen Städten lebten, waren nicht erschienen, weil sie sich eine Fahrt bei dieser Witterung nicht zutrauten. So war es letztlich ein ziemlich intimes Fest geworden, und beide hatten sie es zutiefst genossen.
Sie hängte ein paar T-Shirts, die über einem Stuhl lagen, in ihren Kleiderschrank. Gerade weil Felix dieses Haus so sehr geliebt hatte, wollte sie es ordentlich und gepflegt hinterlassen. Sie würde jetzt mit viel heißem Wasser putzen, bis alles duftete und glänzte: die Fenster, die Böden, alle Regale und Schränke, die Fliesen und Armaturen im Bad. Es sollte strahlen und blinken, wenn sie sich für immer von ihm verabschiedete.
Sie schuftete den ganzen Vormittag, achtete nicht darauf, dass ihr der Schweiß in Strömen über den Körper lief. Es war schon nach halb zwei, als sie den letzten Eimer mit dreckigem Wasser wegkippte, sich aufrichtete und leise stöhnend ihren schmerzenden Rücken straffte.
Die weißen Fußbodendielen glänzten in der Sonne. Eine lange nicht gekannte, fast vergessene innere Ruhe breitete sich in Rebecca aus, beinahe eine Art Zufriedenheit. Sie hatte ein Ziel, endlich, und um sie herum war alles in Ordnung.
Sie ging ins Bad, holte die Tabletten aus dem Schrank. Sie nahm sie mit hinunter und legte die Päckchen auf den Küchentisch. Sie würde noch einmal durch Haus und Garten gehen und nach dem Rechten sehen, dann das Zeug schlucken, vielleicht noch ein paar Schlaftabletten und zwei oder drei Gläser Whisky dazu, und dann lag alles hinter ihr.
Gerade als sie im Wohnzimmer einen vollen Aschenbecher entdeckte, den sie unbedingt noch ausleeren musste, klingelte das Telefon.
Sie erschrak vor diesem unerwarteten Laut in der Stille, und einen Moment lang wusste sie nicht einzuordnen, woher das Geräusch rührte. Sie stand wie erstarrt, dann begriff sie, dass es sich um das Telefon handelte und dass sie entscheiden musste, ob sie den Hörer abnehmen wollte.
Seit ihrem völligen Rückzug von allem und jedem in ihrem früheren Leben, seit ihrem radikalen Bruch mit allen Menschen, die einst zu ihr gehört hatten, bekam sie tatsächlich so selten Anrufe, dass sie fast das Vorhandensein des schwarzen Apparats in ihrem Wohnzimmer vergessen hatte. Das letzte Mal hatte er vier Wochen zuvor geläutet, und da hatte sich jemand verwählt.
Vielleicht diesmal wieder, dachte sie, also brauche ich nicht zu reagieren.
Das Telefon verstummte. Sie atmete tief durch, griff nach dem Aschenbecher. Das Telefon begann erneut zu klingeln.
Am Ende war es etwas Wichtiges. Obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, dass es noch etwas von Bedeutung geben konnte. Sie hatte alle Verbindungen gekappt. Die Menschen hatten sie vergessen. Die Forderungen des Finanzamts hatte sie stets pünktlich beglichen, ebenso Strom – und Wasserrechnungen.
Oder nicht? Handelte es sich bei dem Anruf um ein Problem aus dieser Richtung? Irgendetwas, das zu erledigen sie vergessen hatte?
Zögernd nahm sie den Hörer ab. »Rebecca Brandt«, meldete sie sich mit leiser Stimme.
Im nächsten Moment wünschte sie inbrünstig, dies nicht getan zu haben.
3
Er hatte ihr den ganzen Plan vermasselt. Natürlich hätte sie noch immer jede Menge Zeit gehabt. Vor Ablauf von zweieinhalb Stunden mindestens konnte er nicht da sein, und er hätte dann das Vergnügen gehabt, ihre Leiche zu entdecken. Schließlich konnte es ihr gleich sein, wer sie letztlich fand und wann, und ästhetischer wäre es allemal nach so kurzer Zeit. Andernfalls würde sie für den ganzen Rest des heißen Sommers hier liegen und verfaulen, und die Frage war, wann überhaupt jemand über sie stolpern würde.
Sie stand
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