Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
Eindruck gewinnen. Rebecca fragte sich, wie Menschen dieses Zeug essen konnten, noch dazu bei der Hitze. Sie fragte sich, weshalb ihnen nicht von dem Gestank allein schon übel wurde. Sie fragte sich, wie man überhaupt das Gewühl und diese Nähe nackter, schweißriechender Körper aushalten konnte.
Und weshalb sah sie nur hässliche Menschen?
Sie wusste natürlich, dass nicht nur Männer mit dicken Bäuchen hier herumliefen, ebenso wenig wie Le Brusc ein
Treffpunkt für Frauen war, die Bikini trugen, ohne die Figur dafür zu haben. Mit Sicherheit tummelten sich hier auch vergnügte Teenager und reizende kleine Kinder. Aber es mochte wesenstypisch für alles Hässliche und Vulgäre sein, dass es das Schöne und Feine bis zu dessen Unsichtbarkeit hin dominierte. Darüber hinaus hing es sicher auch mit ihrer, Rebeccas, Gemütsverfassung zusammen. Sie war dabei, sich von der Welt und dem Leben zu verabschieden, und es war Teil des Prozesses, die abstoßenden Seiten des Erdendaseins zu fokussieren und die guten auszublenden.
Wobei dies allerdings an diesem Tag, an dieser Hafenpromenade tatsächlich nicht schwer fiel. Als sie das Geschäft erreichte, in dem sie einkaufen wollte, war sie unzählige Male angerempelt, gestoßen und geschubst worden, hatte einen braunen Sonnenölfleck am Ärmel ihres weißen T – Shirts und war nur mit knapper Not einem, ungeachtet des Gewühls mit rasantem Tempo, auf seinem Skateboard dahinschießenden Halbwüchsigen ausgewichen. Ihr war heiß, und sie merkte, dass sie Kopfschmerzen bekommen würde. Dennoch, obwohl sie eigentlich nur genervt und erschöpft war – oder gerade deshalb? –, kam ihr, als sie die Tür zu dem kleinen Lädchen aufstieß, der Gedanke, wie merkwürdig es doch war, dass sie nun hier stand und ihren Körper als so beschwerlich empfand, so schmerzend und schwitzend, während sie eigentlich, hätte der Tagesverlauf nicht diese überraschende Wende genommen, zu diesem Zeitpunkt schon tot gewesen wäre. Ihren Körper somit überhaupt nicht mehr gefühlt hätte.
Sie fröstelte plötzlich, schauderte, und das lag nicht nur an der deutlich kühleren Luft im Inneren des klimatisierten Ladens.
Zum Glück stand nicht der Inhaber hinter der Theke, sondern ein junges Mädchen, das vermutlich den Sommer über hier jobbte und das Rebecca nicht kannte. Sie und Felix hatten
früher oft hier eingekauft, aber seit Felix’ Tod war sie nicht mehr da gewesen, und sie hätte ungern Fragen beantwortet und Erklärungen abgegeben. Und noch weniger gern Beileidsbezeugungen entgegengenommen. Obwohl die Menschen es natürlich nur gut meinten, waren Rebecca vom ersten Moment an alle Kommentare zu Felix’ Tod verlogen erschienen. Weil sie nicht im Entferntesten den tatsächlichen Schmerz erreichen konnten, den sie empfand, weil alles Mitgefühl und Verständnis nicht dem gerecht wurde, was der Verlust ihres Mannes für sie bedeutete. Sein Ende war ihr Ende, aber wer hätte das schon verstanden? Am höhnischsten war ihr stets der Ausspruch Das Leben geht weiter vorgekommen. Bullshit , hätte Felix dazu gesagt. Das Leben ging überhaupt nicht weiter. Man konnte noch atmen, essen, trinken und den eigenen Herzschlag fühlen und trotzdem tot sein. Aber sie hatte es immer für überflüssig gehalten, dies irgendjemandem erklären zu wollen.
Sie kaufte verschiedene Käsesorten, Salate und Oliven, und als sie wieder draußen stand, ging ihr auf, dass sie unwillkürlich genauso eingekauft hatte wie früher, als Felix noch lebte: Sie hatte ausgewählt, was er besonders gern mochte. So wie sie bis heute seine Lieblingsgerichte kochte, auch wenn sie selber gar nicht gern davon aß oder sowieso keinen Hunger hatte und schließlich alles wegkippte. Es war wie ein Gesetz, dem sie ewig folgen würde. Sie konnte nicht so tun, als sei er tot.
So tun, als sei er tot!
Fast hätte sie gelacht, dabei war ihr nach allem anderen als Gelächter zumute. Welch eine verrückte Formulierung. Sie konnte nicht so tun, als sei er tot. Er war tot, verdammt noch mal. Sie hatte an seinem Grab gestanden und Erde auf seinen Sarg geschaufelt, und wie durch einen Schleier, oder eine Wand, hatte sie die Menschen ringsum wahrgenommen, die alle traurige, betroffene Gesichter machten, einige weinten
auch, und man sprach von einem unersetzlichen Verlust und davon, dass Felix viel zu früh aus ihrer aller Mitte gerissen worden war.
»Sehen Sie nicht das willkürliche, ungerechte Schicksal in seinem Tod«, hatte der Pfarrer zu
Weitere Kostenlose Bücher