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Der Fremde (German Edition)

Der Fremde (German Edition)

Titel: Der Fremde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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Bedürfnisse oft meine Gefühle störten. An dem Tag, als ich Mama beerdigt hätte, wäre ich sehr erschöpft und müde gewesen. Sodass mir nicht klar geworden wäre, was geschah. Was ich mit Sicherheit sagen könnte, wäre, dass ich es lieber gehabt hätte, Mama wäre nicht gestorben. Aber mein Anwalt sah nicht zufrieden aus. Er hat gesagt: «Das ist nicht genug.»
    Er hat nachgedacht. Er hat mich gefragt, ob er sagen dürfte, ich hätte an jenem Tag meine natürlichen Gefühle beherrscht. Ich habe gesagt: «Nein, weil das nicht stimmt.» Er hat mich seltsam angesehen, so als würde ich ihm ein bisschen Ekel einflößen. Er hat fast boshaft zu mir gesagt, dass in jedem Fall der Leiter und das Personal des Heims als Zeugen gehört würden und dass mir «das einen ganz gemeinen Streich spielen könnte». Ich habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass diese Geschichte nichts mit meiner Sache zu tun hätte, aber er hat bloß erwidert, es läge auf der Hand, dass ich noch nie mit der Justiz zu tun gehabt hätte.
    Er ist mit verärgertem Gesicht gegangen. Ich hätte ihn gern zurückgehalten, ihm gern erklärt, dass ich mir seine Sympathie wünschte, nicht um besser verteidigt zu werden, sondern, wenn ich so sagen darf, ganz normal. Vor allem merkte ich, dass ich ihm Unbehagen einflößte. Er verstand mich nicht und nahm es mir ein bisschen übel. Ich hatte den Wunsch, ihm zu versichern, dass ich so war wie alle, ganz genauso wie alle. Aber das alles war im Grunde nicht sehr nützlich, und ich habe aus Trägheit darauf verzichtet.
    Kurze Zeit darauf wurde ich wieder dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Es war zwei Uhr nachmittags, und diesmal war sein Büro von Licht erfüllt, das durch einen Voilevorhang kaum gedämpft wurde. Es war sehr heiß. Er hat mich Platz nehmen lassen und mir sehr höflich erklärt, dass mein Anwalt «infolge einer Verhinderung» nicht hätte kommen können. Ich hätte aber das Recht, seine Fragen nicht zu beantworten und zu warten, bis mein Anwalt mir beistehen könnte. Ich habe gesagt, ich könnte allein antworten. Er hat mit dem Finger einen Knopf auf dem Tisch berührt. Ein junger Gerichtsschreiber ist gekommen und hat sich fast direkt hinter mich gesetzt.
    Wir haben es uns beide in unseren Sesseln bequem gemacht. Das Verhör hat begonnen. Er hat mir zunächst gesagt, dass ich als ein schweigsamer und verschlossener Charakter beschrieben würde, und er wollte wissen, was ich davon hielte. Ich habe geantwortet: «Es ist so, dass ich nie viel zu sagen habe. Dann schweige ich.» Er hat gelächelt wie beim ersten Mal, hat zugegeben, dass das der allerbeste Grund wäre, und hat hinzugefügt: «Im Übrigen ist das völlig unwichtig.» Er ist verstummt, hat mich angesehen und hat sich ziemlich abrupt aufgerichtet, um sehr schnell zu sagen: «Was mich interessiert, sind Sie.» Ich habe nicht recht verstanden, was er damit meinte, und habe nichts geantwortet. «Einiges an Ihrer Tat begreife ich nicht», hat er hinzugefügt. «Ich bin sicher, Sie werden mir helfen, es zu verstehen.» Ich habe gesagt, alles wäre sehr einfach. Er hat mich gedrängt, ihm meinen Tagesverlauf zu schildern. Ich habe ihm geschildert, was ich ihm bereits erzählt hatte: Raymond, der Strand, das Bad, der Streit, wieder der Strand, die kleine Quelle, die Sonne und die fünf Schüsse. Bei jedem Satz sagte er: «Schön, schön.» Als ich zu dem hingestreckten Körper gekommen bin, hat er zustimmend «gut» gesagt. Ich war es leid, in der Weise dieselbe Geschichte zu wiederholen, und es kam mir vor, als hätte ich noch nie so viel geredet.
    Nach kurzem Schweigen ist er aufgestanden und hat gesagt, er wollte mir helfen, dass ich ihn interessierte und dass er mit Gottes Hilfe etwas für mich tun würde. Aber vorher wollte er mir noch einige Fragen stellen. Ohne Übergang hat er mich gefragt, ob ich Mama liebte. Ich habe gesagt: «Ja, so wie alle», und der Gerichtsschreiber, der bis dahin stetig tippte, muss sich in den Tasten vertan haben, denn er ist durcheinandergeraten und musste noch einmal zurückgehen. Immer noch ohne erkennbare Logik hat der Richter mich dann gefragt, ob ich die fünf Schüsse hintereinanderweg abgegeben hätte. Ich habe überlegt und deutlich gemacht, dass ich zuerst einmal und ein paar Sekunden später noch viermal geschossen hätte. «Warum haben Sie zwischen dem ersten und dem zweiten Schuss gewartet?», hat er da gesagt. Noch einmal habe ich den roten Strand vor mir gesehen und habe auf meiner Stirn das

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