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Der Fremde (German Edition)

Der Fremde (German Edition)

Titel: Der Fremde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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Brennen der Sonne gefühlt. Aber diesmal habe ich nichts geantwortet. Während des folgenden Schweigens hat der Richter so ausgesehen, als regte er sich auf. Er hat sich gesetzt, hat in seinem Haar gewühlt, hat die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt und sich mit seltsamer Miene etwas zu mir vorgebeugt: «Warum, warum haben Sie auf eine am Boden liegende Leiche geschossen?» Darauf habe ich wieder nicht zu antworten gewusst. Der Richter hat sich mit den Händen über die Stirn gestrichen und hat seine Frage mit etwas anderer Stimme wiederholt: «Warum? Sie müssen es mir sagen. Warum?» Ich schwieg immer noch.
    Plötzlich ist er aufgestanden, ist mit großen Schritten zum einen Ende des Büros gegangen und hat eine Schublade eines Aktenschranks aufgezogen. Er hat ein silbernes Kruzifix herausgeholt, das er geschwungen hat, während er wieder auf mich zukam. Und mit völlig veränderter, fast bebender Stimme hat er gerufen: «Kennen Sie ihn, den hier?» Ich habe gesagt: «Ja, natürlich.» Da hat er mir sehr schnell und leidenschaftlich gesagt, er glaubte an Gott, seine Überzeugung wäre es, dass kein Mensch so schuldig wäre, als dass Gott ihm nicht vergäbe, dass dazu aber nötig wäre, dass der Mensch durch seine Reue zum Kind werde, dessen Seele leer ist und bereit, alles aufzunehmen. Sein ganzer Körper war über den Tisch gebeugt. Er schwenkte sein Kreuz fast über mir. Offen gestanden konnte ich seinen Ausführungen sehr schlecht folgen, einmal weil ich schwitzte und in seinem Arbeitszimmer dicke Fliegen waren, die sich auf mein Gesicht setzten, und auch, weil er mir ein bisschen Angst machte. Ich erkannte gleichzeitig, dass das lächerlich war, weil schließlich ich der Verbrecher war. Er hat jedoch weitergeredet. Ich habe ungefähr verstanden, dass es seiner Meinung nach nur einen dunklen Punkt in meinem Geständnis gäbe, die Tatsache, dass ich gewartet hätte, bis ich meinen zweiten Schuss abfeuerte. Alles Übrige wäre sehr gut, aber das verstände er einfach nicht.
    Ich wollte ihm sagen, dass es ein Fehler von ihm wäre, sich zu verbeißen: Dieser letzte Punkt wäre nicht so wichtig. Aber er hat mich unterbrochen und hat mich, zu seiner vollen Größe aufgerichtet, ein letztes Mal ermahnt und gefragt, ob ich an Gott glaubte. Ich habe mit Nein geantwortet. Er hat sich entrüstet hingesetzt. Er hat mir gesagt, das wäre unmöglich, alle Menschen glaubten an Gott, sogar jene, die sich von seinem Antlitz abwandten. Das wäre seine Überzeugung, und wenn er je daran zweifeln müsste, hätte sein Leben keinen Sinn mehr. «Wollen Sie», hat er ausgerufen, «dass mein Leben keinen Sinn hat?» Meiner Ansicht nach ging mich das nichts an, und ich habe es ihm gesagt. Aber schon streckte er Christus über den Tisch hinweg vor meine Augen und rief wie von Sinnen: «Ich bin Christ. Ich bitte den hier um Vergebung deiner Sünden. Wie kannst du nicht glauben, dass er für dich gelitten hat?» Ich habe wohl gemerkt, dass er mich duzte, aber ich hatte es satt. Die Hitze wurde immer größer. Wie immer, wenn ich jemanden loswerden möchte, dem ich kaum zuhöre, habe ich scheinbar zugestimmt. Zu meiner Überraschung hat er triumphiert: «Siehst du, siehst du», sagte er. «Nicht wahr, du glaubst, und du wirst dich ihm anvertrauen?» Natürlich habe ich wiederum nein gesagt. Er ist in seinen Sessel zurückgefallen.
    Er wirkte sehr erschöpft. Er hat eine Weile geschwiegen, während die Maschine, die dem Dialog unaufhörlich gefolgt war, noch die letzten Sätze nachholte. Dann hat er mich aufmerksam und etwas traurig angesehen. Er hat gemurmelt: «Ich habe noch nie eine so verhärtete Seele wie die Ihre gesehen. Die Verbrecher, die mir vorgeführt worden sind, haben bei diesem Bild des Schmerzes immer geweint.» Ich wollte schon antworten, das wäre so, weil es sich eben um Verbrecher handelte. Aber ich habe gedacht, dass ich auch so war wie sie. Das war eine Vorstellung, an die ich mich nicht gewöhnen konnte. Der Richter ist dann aufgestanden, als wollte er mir bedeuten, dass das Verhör beendet war. Er hat mich nur mit demselben etwas müden Ausdruck gefragt, ob ich meine Tat bereute. Ich habe nachgedacht und habe gesagt, dass ich eher als wirkliche Reue einen gewissen Verdruss empfände. Ich hatte den Eindruck, dass er mich nicht verstand. Aber weiter sind die Dinge an diesem Tag nicht gegangen.
    In der Folge habe ich den Untersuchungsrichter noch oft wiedergesehen. Nur war jedes Mal mein Anwalt bei mir. Man

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