Der Fremde (German Edition)
habe schließlich jedes Gesicht deutlich, im hellen Licht hervorgehoben gesehen. Ich habe festgestellt, dass ein Wärter am Ende des Ganges zwischen den Gittern saß. Die meisten arabischen Gefangenen sowie ihre Familien hatten sich einander gegenüber hingehockt. Sie schrien nicht. Trotz des Tumults gelang es ihnen, sich sehr leise zu verständigen. Ihr dumpfes Gemurmel von weiter unten her bildete so etwas wie einen Generalbass für die Unterhaltungen, die sich über ihren Köpfen kreuzten. Das alles habe ich sehr schnell bemerkt, während ich mich Marie näherte. Schon an das Gitter gedrückt, lächelte sie mir aus Leibeskräften zu. Ich habe sie sehr schön gefunden, aber ich konnte es ihr nicht sagen.
«Na?», hat sie sehr laut gesagt. «Na ja.» – «Geht’s dir gut, hast du alles, was du brauchst?» – «Ja, alles.»
Wir haben geschwiegen, und Marie lächelte immer noch. Die dicke Frau brüllte zu meinem Nachbarn herüber, ihrem Mann vermutlich, einem großen blonden Typ mit offenem Blick. Es war die Fortsetzung eines schon laufenden Gesprächs.
«Jeanne wollte ihn nicht nehmen», schrie sie lauthals. «Ja, ja», sagte der Mann. «Ich habe ihr gesagt, du würdest ihn wieder abholen, wenn du rauskommst, aber sie wollte ihn nicht nehmen.»
Marie hat ihrerseits geschrien, Raymond ließe mich grüßen, und ich habe «danke» gesagt. Aber meine Stimme wurde von meinem Nachbarn übertönt, der gefragt hat, «ob es ihm gutginge». Seine Frau hat lachend gesagt, «dass es ihm nie besser gegangen wäre». Mein Nachbar zur Linken, ein kleiner junger Mann mit zarten Händen, sagte nichts. Ich habe bemerkt, dass er der kleinen Alten gegenüberstand und dass die beiden sich eindringlich ansahen. Aber ich hatte keine Zeit, sie länger zu beobachten, weil Marie mir zugerufen hat, man müsste hoffen. Ich habe «ja» gesagt. Gleichzeitig sah ich sie an und hatte Lust, durch ihr Kleid hindurch ihre Schulter zu drücken. Ich hatte Lust auf diesen feinen Stoff, und ich wusste nicht so recht, worauf man sonst noch hoffen müsste. Aber ebendas wollte Marie wohl sagen, denn sie lächelte immer noch. Ich sah nur noch das Strahlen ihrer Zähne und ihre Augenfältchen. Sie hat wieder gerufen: «Du kommst raus, und wir heiraten!» Ich habe geantwortet: «Meinst du?», aber das tat ich vor allem, um etwas zu sagen. Sie hat dann sehr schnell und wieder sehr laut ja gesagt, dass ich freigesprochen würde und dass wir wieder baden gehen würden. Aber die andere Frau brüllte ihrerseits und sagte, sie hätte in der Gerichtskanzlei einen Korb abgegeben. Sie zählte alles auf, was sie hineingetan hatte. Man müsste kontrollieren, denn das alles wäre teuer. Mein anderer Nachbar und seine Mutter sahen sich immer noch an. Das Gemurmel der Araber unter uns ging weiter. Draußen schien sich das Licht gegen die Fensteröffnung zu blähen.
Mir war ein bisschen schlecht, und ich wäre gern gegangen. Der Krach tat mir weh. Aber andererseits wollte ich noch etwas von Maries Anwesenheit haben. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Marie hat mir von ihrer Arbeit erzählt, und sie lächelte unentwegt. Das Gemurmel, das Geschrei und die Gespräche überlagerten sich. Die einzige Insel der Stille war neben mir der kleine junge Mann und diese Alte, die sich ansahen. Nach und nach hat man die Araber weggeführt. Fast alle sind verstummt, sobald der erste hinausgegangen ist. Die kleine Alte ist dicht an die Gitterstäbe getreten, und im selben Moment hat ein Wärter ihrem Sohn ein Zeichen gegeben. Er hat gesagt: «Auf Wiedersehen, Mama», und sie hat die Hand durch zwei Stäbe gesteckt, um ihm zart, langsam und anhaltend zu winken.
Sie ist gegangen, während ein Mann mit dem Hut in der Hand eintrat und ihren Platz einnahm. Man hat einen Gefangenen hereingeführt, und sie haben sich lebhaft unterhalten, aber halblaut, weil es im Raum wieder still geworden war. Mein Nachbar zur Rechten wurde abgeholt, und seine Frau hat, ohne die Stimme zu senken, als hätte sie nicht gemerkt, dass man nicht mehr zu schreien brauchte, zu ihm gesagt: «Bleib gesund und pass auf dich auf.» Dann bin ich drangekommen. Marie hat zu verstehen gegeben, dass sie mich küsste. Ich habe mich umgedreht, bevor ich verschwunden bin. Sie stand reglos da, das Gesicht ans Gitter gedrückt, mit demselben zerrissenen, verkrampften Lächeln.
Kurz darauf hat sie mir dann geschrieben. Und von diesem Moment an haben die Dinge eingesetzt, über die ich nie gern gesprochen habe. Wie
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