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Der Fremde (German Edition)

Der Fremde (German Edition)

Titel: Der Fremde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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beschränkte sich darauf, mich bestimmte Punkte meiner bisherigen Aussagen genauer erläutern zu lassen. Oder aber der Richter diskutierte mit meinem Anwalt die Anklagepunkte. Aber eigentlich kümmerten sie sich dann nie um mich. Allmählich jedenfalls hat sich der Ton der Verhöre geändert. Es schien, dass der Richter sich nicht mehr für mich interessierte und dass er meinen Fall gewissermaßen als erledigt ansah. Er hat nicht mehr von Gott geredet, und ich habe ihn nie wieder in so einer Erregung gesehen wie am ersten Tag. Das Ergebnis war, dass unsere Unterhaltungen herzlicher geworden sind. Ein paar Fragen, ein kurzes Gespräch mit meinem Anwalt, und die Verhöre waren beendet. Meine Sache ging ihren Gang, wie der Richter sich ausdrückte. Manchmal auch, wenn das Gesprächsthema allgemein war, bezog man mich ein. Ich begann aufzuatmen. Niemand war in diesen Stunden böse zu mir. Alles war so natürlich, so gut geregelt und so nüchtern ausgeführt, dass ich den lächerlichen Eindruck hatte, «zur Familie zu gehören». Und am Ende der elf Monate, die diese Ermittlung gedauert hat, kann ich sagen, dass ich mich fast wunderte, mich jemals über etwas anderes gefreut zu haben als über diese seltenen Augenblicke, in denen der Richter mich zur Tür seines Arbeitszimmers geleitete, mir auf die Schulter klopfte und herzlich sagte: «Für heute ist Schluss, Herr Antichrist.» Man übergab mich dann wieder den Gendarmen.

II
    Es gibt Dinge, über die ich nie gern gesprochen habe. Als ich ins Gefängnis gekommen bin, ist mir nach ein paar Tagen klar geworden, dass ich über diesen Teil meines Lebens nicht gern sprechen würde.
    Später habe ich diesen Widerwillen nicht mehr wichtig gefunden. Tatsächlich war ich in den ersten Tagen nicht wirklich im Gefängnis: Ich wartete unbestimmt auf irgendein neues Ereignis. Erst nach Maries erstem und einzigem Besuch hat alles angefangen. Von dem Tag an, an dem ich ihren Brief bekommen habe (sie schrieb, dass man ihr nicht mehr erlaubte zu kommen, weil sie nicht meine Frau wäre), von diesem Tag an habe ich gefühlt, dass ich in meiner Zelle zu Hause war und dass mein Leben hier aufhörte. Am Tag meiner Verhaftung hat man mich zuerst in einen Raum gesperrt, in dem schon mehrere Gefangene waren, größtenteils Araber. Sie haben gelacht, als sie mich sahen. Dann haben sie mich gefragt, was ich getan hätte. Ich habe gesagt, ich hätte einen Araber getötet, und sie sind verstummt. Aber wenig später ist der Abend hereingebrochen. Sie haben mir erklärt, wie man die Matte zurechtlegen musste, auf der ich schlafen sollte. Indem man das eine Ende einrollte, konnte man ein Kopfpolster daraus machen. Die ganze Nacht sind Wanzen über mein Gesicht gekrochen. Einige Tage später hat man mich in einer Zelle abgesondert, wo ich auf einer Holzpritsche schlief. Ich hatte einen Toilettenkübel und eine Waschschüssel aus Blech. Das Gefängnis war ganz oben in der Stadt, und durch ein kleines Fenster konnte ich das Meer sehen. Eines Tages, als ich, die Gitterstäbe umklammernd, das Gesicht dem Licht entgegenstreckte, ist ein Wärter hereingekommen und hat mir gesagt, ich hätte Besuch. Ich habe gedacht, dass es Marie wäre. Sie war es auch.
    Ich bin, um in das Sprechzimmer zu kommen, durch einen langen Flur, dann über eine Treppe und schließlich durch noch einen Flur gegangen. Ich bin in einen sehr großen, durch ein breites Fenster erhellten Raum getreten. Der Raum wurde von zwei hohen Gittern, die ihn der Länge nach durchschnitten, in drei Teile geteilt. Zwischen den beiden Gittern war ein acht bis zehn Meter breiter Zwischenraum, der die Besucher von den Häftlingen trennte. Ich habe Marie mir gegenüber erblickt, mit ihrem gestreiften Kleid und ihrem gebräunten Gesicht. Auf meiner Seite waren etwa zehn Gefangene, größtenteils Araber. Marie war von Maurinnen umgeben und stand zwischen zwei Besucherinnen: einer schwarzgekleideten kleinen Alten mit zusammengepressten Lippen und einer dicken Frau ohne Kopfbedeckung, die sehr laut mit vielen Handbewegungen sprach. Wegen des Abstands zwischen den Gittern mussten die Besucher und die Häftlinge sehr laut sprechen. Als ich eintrat, riefen der Stimmenlärm, der von den hohen kahlen Wänden des Raums zurückprallte, und das grelle Licht, das vom Himmel über die Scheiben strömte und in den Raum zurückstrahlte, eine Art Betäubung in mir hervor. Meine Zelle war stiller und dunkler. Ich brauchte ein paar Sekunden, um mich umzustellen. Doch ich

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