Der Fremde (German Edition)
dem auch sei, man soll nichts übertreiben, und es ist für mich leichter gewesen als für andere. Doch zu Beginn meiner Haft war das Härteste, dass ich Gedanken eines freien Mannes hatte. Zum Beispiel überkam mich die Lust, an einem Strand zu sein und ans Meer hinunterzugehen. Wenn ich mir das Schwappen der ersten Wellen unter meinen Fußsohlen vorstellte, das Eintauchen des Körpers ins Wasser und die Befreiung, die ich darin fand, fühlte ich auf einmal, wie eng die Mauern meines Gefängnisses waren. Aber das dauerte einige Monate. Dann hatte ich nur noch Häftlingsgedanken. Ich wartete auf den täglichen Ausgang, den ich im Hof machte, oder auf den Besuch meines Anwalts. Mit meiner übrigen Zeit kam ich sehr gut zurecht. Ich habe damals oft gedacht, dass ich, wenn man mich in einem verdorrten Baumstamm hätte leben lassen, mit keiner anderen Beschäftigung, als die Oberfläche des Himmels über meinem Kopf anzusehen, mich allmählich daran gewöhnt hätte. Ich hätte auf das Vorbeifliegen von Vögeln oder auf das Zusammentreffen von Wolken gewartet, so wie ich hier auf die merkwürdigen Schlipse meines Anwalts wartete und wie ich mich in einer anderen Welt bis zum Samstag geduldete, um Maries Körper zu umarmen. Nun war ich, wenn ich es recht bedachte, aber nicht in einem verdorrten Baum. Es gab Unglücklichere als mich. Das war übrigens ein Gedanke von Mama, und sie wiederholte ihn oft, dass man sich am Ende an alles gewöhnt.
Übrigens ging ich gewöhnlich nicht so weit. Die ersten Monate waren hart. Aber gerade dass ich mich anstrengen musste, half, sie herumzubringen. Zum Beispiel wurde ich vom Verlangen nach einer Frau gequält. Das war natürlich, ich war jung. Ich dachte dabei nie speziell an Marie. Aber ich dachte so sehr an eine Frau, an die Frauen, an alle, die ich gekannt hatte, an alle Situationen, in denen ich sie geliebt hatte, dass meine Zelle sich mit all den Gesichtern bevölkerte und von all meinem Verlangen erfüllt wurde. In einer Hinsicht brachte mich das aus dem Gleichgewicht. In einer anderen aber schlug es die Zeit tot. Ich hatte schließlich die Sympathie des Oberaufsehers gewonnen, der bei der Essensausgabe den Küchenjungen begleitete. Er hat mich zuerst auf die Frauen angesprochen. Er hat mir gesagt, das wäre das Erste, worüber die anderen klagten. Ich habe ihm gesagt, dass ich wie sie wäre und dass ich diese Behandlung ungerecht fände. «Aber gerade deswegen steckt man euch ins Gefängnis», hat er gesagt. – «Wie, deswegen?» – «Ja, ebendas ist doch die Freiheit. Man nimmt euch die Freiheit.» Daran hatte ich nie gedacht. Ich habe ihm zugestimmt: «Das ist wahr», habe ich gesagt, «wo wäre sonst die Strafe?» – «Ja, Sie verstehen die Dinge. Die anderen nicht. Aber am Ende schaffen sie sich selbst Erleichterung.» Der Aufseher ist dann gegangen.
Dann waren da noch die Zigaretten. Als ich ins Gefängnis gekommen bin, hat man mir meinen Gürtel, meine Schnürsenkel, meinen Schlips und alles, was ich in den Taschen hatte, abgenommen, vor allem meine Zigaretten. In der Zelle habe ich dann darum gebeten, dass man sie mir zurückgibt. Aber man hat mir gesagt, das wäre verboten. Die ersten Tage waren sehr hart. Das hat mich vielleicht am meisten mitgenommen. Ich lutschte Holzstücke, die ich von meinem Bettrost abriss. Den ganzen Tag über hatte ich ständigen Brechreiz. Ich verstand nicht, warum man mir das nahm, was doch keinem wehtat. Später habe ich begriffen, dass auch das Teil der Strafe war. Aber da hatte ich mich daran gewöhnt, nicht mehr zu rauchen, und diese Strafe war gar keine mehr für mich.
Abgesehen von diesen Unannehmlichkeiten war ich nicht besonders unglücklich. Das Hauptproblem war wieder einmal, die Zeit totzuschlagen. Von dem Augenblick an, als ich gelernt habe, mich zu erinnern, habe ich mich dann überhaupt nicht mehr gelangweilt. Ich beschäftigte mich manchmal damit, an mein Zimmer zu denken, und in der Phantasie ging ich von einer Ecke aus und wieder dorthin zurück, wobei ich im Geiste alles unterwegs registrierte. Am Anfang war es schnell erledigt. Aber jedes Mal, wenn ich wieder anfing, dauerte es etwas länger. Ich erinnerte mich nämlich an jedes Möbelstück, und bei jedem einzelnen an jeden dazugehörigen Gegenstand, und bei jedem Gegenstand an alle Einzelheiten, und bei den Einzelheiten wiederum an eine Ablagerung, einen Riss oder eine schartige Kante, an ihre Farbe oder an ihre Körnung. Gleichzeitig versuchte ich, den Faden meiner
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