Der Fremde (German Edition)
Neues für mich ereignen würde. Mein Prozess war für die letzte Sitzungsperiode des Schwurgerichts angesetzt, und diese Periode würde mit dem Monat Juni enden. Die Verhandlung wurde eröffnet, als draußen pralle Sonne schien. Mein Anwalt hatte mir versichert, sie würde nicht länger als zwei oder drei Tage dauern. «Übrigens», hatte er hinzugefügt, «hat das Gericht es eilig, weil Ihr Fall nicht der wichtigste der Sitzungsperiode ist. Gleich anschließend wird ein Vatermord verhandelt.»
Morgens um halb acht hat man mich abgeholt, und der Zellenwagen hat mich zum Gerichtsgebäude gebracht. Die beiden Gendarmen haben mich in einen kleinen Raum geführt, in dem es nach Dunkelheit roch. Wir haben uns gesetzt und in der Nähe einer Tür gewartet, hinter der Stimmen, Rufe, Stühlerücken und ein Hin- und Hergeschiebe zu hören waren, das mich an jene Feste im Viertel erinnerte, bei denen nach dem Konzert der Saal ausgeräumt wird, um tanzen zu können. Die Gendarmen haben mir gesagt, wir müssten auf das Gericht warten, und einer von ihnen hat mir eine Zigarette angeboten, die ich abgelehnt habe. Er hat mich kurz darauf gefragt, «ob ich Manschetten hätte». Ich habe verneint. Und in gewisser Hinsicht würde es mich sogar interessieren, einen Prozess mit anzusehen. Ich hätte nie in meinem Leben Gelegenheit dazu gehabt. «Ja», hat der zweite Gendarm gesagt, «aber auf die Dauer wird es langweilig.»
Nach einiger Zeit hat eine kleine Klingel im Raum geläutet. Da haben sie mir die Handschellen abgenommen. Sie haben die Tür aufgemacht und mich zur Anklagebank geführt. Der Saal war brechend voll. Trotz der Markisen drang an manchen Stellen die Sonne ein, und die Luft war schon zum Ersticken. Man hatte die Fenster geschlossen gelassen. Ich habe mich gesetzt, rechts und links von mir die Gendarmen. Im gleichen Moment habe ich eine Reihe von Gesichtern vor mir erblickt. Alle sahen mich an: Mir ist klar geworden, dass es die Geschworenen waren. Aber ich kann nicht sagen, was sie voneinander unterschied. Ich hatte nur einen Eindruck: Ich war vor einer Straßenbahnbank, und alle diese anonymen Fahrgäste belauerten den Neuankömmling, um seine lächerlichen Seiten herauszufinden. Ich weiß wohl, dass das ein alberner Gedanke war, denn hier suchten sie ja nicht nach dem Lächerlichen, sondern nach dem Verbrechen. Doch der Unterschied ist nicht groß, und das war jedenfalls der Gedanke, der mir gekommen ist.
Ich war auch ein bisschen betäubt von all diesen Leuten in diesem geschlossenen Saal. Ich habe wieder in den Zuhörerraum geschaut und habe kein Gesicht erkannt. Ich glaube, dass mir zuerst nicht bewusst wurde, dass diese ganze Menge sich da drängelte, um mich zu sehen. Gewöhnlich kümmerten sich die Leute nicht um mich. Ich musste mich anstrengen, um zu verstehen, dass ich der Grund für diesen ganzen Trubel war. Ich habe zu dem Gendarmen gesagt: «Was für eine Menge!» Er hat geantwortet, das läge an den Zeitungen, und hat mir eine Gruppe gezeigt, die neben einem Tisch unter der Geschworenenbank herumstand. Er hat gesagt: «Da sind sie.» Ich habe gefragt: «Wer?», und er hat wiederholt: «Die Zeitungen.» Er kannte einen der Journalisten, der ihn in dem Moment gesehen hat und zu uns herüberkam. Es war ein schon älterer sympathischer Mann mit einem etwas grimassierenden Gesicht. Er hat dem Gendarmen sehr herzlich die Hand geschüttelt. Ich habe in dem Moment bemerkt, dass alle sich trafen, sich ansprachen und unterhielten wie in einem Club, wo man froh ist, unter seinesgleichen zu sein. Das erklärte mir auch meinen seltsamen Eindruck, überflüssig, so etwas wie ein Eindringling zu sein. Der Journalist allerdings hat mich lächelnd angesprochen. Er hat gesagt, er hoffte, dass alles gut für mich ausginge. Ich habe ihm gedankt, und er hat hinzugefügt: «Wissen Sie, wir haben Ihren Fall etwas aufgebauscht. Der Sommer ist die Saure-Gurken-Zeit für Zeitungen. Und nur Ihre Geschichte und die des Vatermörders taugten etwas.» Er hat mir dann in der Gruppe, aus der er gekommen war, einen kleinen Mann gezeigt, der Ähnlichkeit mit einem gemästeten Wiesel hatte, mit einer riesigen, schwarz gerahmten Brille. Er hat mir gesagt, das wäre der Sonderkorrespondent einer Pariser Zeitung. «Er ist übrigens nicht Ihretwegen gekommen. Aber da er über den Prozess des Vatermörders berichten soll, hat man ihn gebeten, Ihren Fall gleich mitzukabeln.» Da hätte ich ihm beinah wieder gedankt. Aber ich habe gedacht, das
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