Der Fremde ohne Gesicht

zuschnürte. Vor sich hatte sie das Bild einer hübschen, lebhaften jungen Frau, die kaum etwas mit den eingetrockneten, verwesten Überresten zu tun hatte, an denen sie noch vor kurzem gearbeitet hatte.
    Sam wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Spade zu. Wenn man bedachte, dass sie ihm gerade offenbart hatten, dass seine Freundin ermordet worden war, fand sie es überraschend, dass er keinerlei Emotion zeigte. Ob dieser Mann überhaupt zu irgendeiner Emotion außer Wut und Hass fähig war? Diese Gefühllosigkeit konnte ihn verdächtig erscheinen lassen, aber Verdächtige neigten eher dazu, Emotionen vorzutäuschen, um ihre Spur zu verwischen. Bei Spade konnte davon keine Rede sein; er gab sich betont gleichgültig.
    Er sah sie an. »Hören Sie, ich habe Ihnen einen Haufen Informationen gegeben. Wie viel ist Ihnen das wert?«
    Sie beschloss zu taktieren. »Was? Ein paar Fotos und Claires Versicherungskarte? Ich gebe Ihnen zehn Pfund.«
    Spade lachte höhnisch auf. »Damit kann ich noch nicht einmal voll tanken.«
    »Ich gebe Ihnen mehr, wenn Sie mir mehr sagen können.«
    Er versuchte sie einzuschüchtern. »Ich könnte es mir auch einfach nehmen.«
    Sie lächelte. Sie hatte Angst, aber das würde sie sich nicht anmerken lassen. »Wie kommen Sie darauf, dass ich mehr Geld bei mir habe?«
    »Ich könnte danach suchen.«
    Sam nahm ihre Handtasche und stellte sie auf den Tisch. Sie enthielt über dreihundert Pfund in bar und außerdem ihre sämtlichen Kreditkarten. Es war der größte Bluff, den sie je versucht hatte. Spade sah die Tasche an, dann Sam.
    »Wie wollen Sie mich dann bezahlen, falls ich Ihnen noch mehr sage?«
    Sam stellte ihre Handtasche zurück auf den Boden. »Geldautomat. Sie bringen mich zur Bank, ich hebe das Geld ab, Sie geben mir die Informationen, und jeder geht seiner Wege.«
    Spade überlegte einen Moment. »Wie viel?«
    »Kommt drauf an, was Sie zu bieten haben.« Sie wusste, dass es riskant war. Sobald sie das Geld aus dem Automaten geholt hatte, konnte er sie einfach zwingen, es ihm auszuhändigen. Günstig für sie war nur, dass es ein öffentlicher Platz sein würde und er in Anwesenheit so vieler Leute vielleicht nichts versuchen würde.
    »Ich kann Ihnen sagen, mit wem sie sich getroffen hat.«
    Sie spürte die Erregung in sich aufsteigen, blieb jedoch äußerlich ruhig. »Woher wollen Sie das wissen?«
    Er grinste schief. »Sie hielt sich für clever, aber sie war nicht so clever, wie sie dachte. Ich bin dahinter gekommen, was sie vorhatte.«
    »Und was hatte sie vor?«
    Spade lachte. »Erst das Geld. Wie viel?«
    Sie überlegte einen Moment. »Fünfhundert Pfund?«
    Er verzog verächtlich den Mund. »Tausend.«
    Sam versuchte überrascht und schockiert auszusehen, aber das war sie nicht. Genau das hatte sie von ihm erwartet. Doch wenn sie zu leicht nachgab, würde er noch mehr fordern.
    »Wie viel? Das soll wohl ein Witz sein?«
    Er schaltete auf stur. »Schlagen Sie ein oder lassen Sie es bleiben.«
    Sam sah Kate und Hudd an. Beide zuckten die Achseln. Sie wandte sich wieder Spade zu und machte ein resigniertes Gesicht. Mit einem lauten Seufzer sagte sie: »Okay, Sie haben gewonnen, Sie kriegen das Geld.«
    Spade lehnte sich über den Tisch und schob sein Gesicht dicht vor ihres. »Ich gewinne immer. Daran sollten Sie sich lieber gewöhnen.«
    Am liebsten hätte sie ihm eine geknallt, aber das wäre Wahnsinn gewesen.
    Spade erhob sich. »Okay, ihr könnt mir alle helfen, meinen Wohnwagen anzuhängen.«
    Sam war verdutzt über die Aufforderung. »Warum?«
    Spade hasste es, wenn Leute ihm Fragen stellten. »Wenn Sie denken, ich bleibe hier hocken, während Sie den Bullen sagen, wo ich bin, dann sind Sie auf dem Holzweg.«
    Sie zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen.«
    Er wandte sich an Kate. »Und Sie bleiben bei mir, bis ich das Geld habe!«
    Sam sah erst Kate an, dann Spade. »Ist das wirklich nötig?«
    Kate legte ihre Hand auf Sams Arm. »Schon gut, Dr. Ryan, ich fahre mit ihm. Ich bin’s gewöhnt, mit seltsamen Leuten in fremde Autos zu steigen. Schon vergessen?«
    Sam war beeindruckt von Kates Mut und kam sich gleichzeitig ziemlich mies vor wegen der Anspielung. Schließlich nickte sie. Was blieb ihr anderes übrig? Sie hoffte nur, dass nicht irgendetwas furchtbar schief gehen würde.
    Während Sam und Kate aufstanden, trat Spade an einen Schrank. Er öffnete die Tür, zog die unterste Schublade heraus und nahm eine Pistole und ein kleines Päckchen aus einem Geheimfach unterhalb der