Der Fremde ohne Gesicht
geblieben zu sein, als sie begriffen hatte, dass Kate tot war. In der Notfallambulanz wurde Sam von einem Arzt und einer Schwester untersucht, die aber außer ein paar blauen Flecken und dem Schock keine Verletzungen feststellen konnten. Sie wollten sie über Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus behalten, aber trotz ihrer Niedergeschlagenheit weigerte sich Sam und beschloss stattdessen, mit Hudd in ihr Hotel zurückzukehren. Auf dem Weg zum Dienstagsmarkt kreiste immer wieder derselbe Gedanke in ihrem Kopf: Wie zum Teufel sollte sie das Sharman beibringen? Sie war für Kate verantwortlich gewesen und sie hatte ihn furchtbar im Stich gelassen.
Sobald sie wieder im Hotel waren, begleitete Hudd Sam hinauf zu ihrem Zimmer und brachte sie bis hinein, bevor er sie verließ. Es drängte ihn, mit ihr zu reden, sie und damit gleichzeitig auch sich selbst über die Ereignisse dieses Tages hinwegzutrösten. Doch vor allem zog es ihn zurück in die stille Geborgenheit seines Colleges in Cambridge. Mit so etwas hatte er nicht gerechnet. Das ganze Unternehmen hatte ein ungewöhnlicher Weg zu seiner Kunst sein sollen. Er hatte berühmt werden wollen, doch jetzt wollte er nur noch nach Hause und die letzten vierundzwanzig Stunden vergessen. Doch das konnte er nicht; es gab noch einiges zu tun. Es waren Erkundigungen einzuziehen und er wusste, dass Sam ihn jetzt dringender brauchen würde als je zuvor. Nachdem Hudd gegangen war, streifte Sam langsam ihre Kleider ab und steckte sie in den weißen Leinenbeutel, den das Hotel zur Verfügung stellte. Ihre Jacke, ihre Hose und ihre Schuhe waren voll mit Kates Blut. Ein wenig kam sich Sam vor wie Jackie Kennedy, als sie, ihre Kleider voller Blut ihres Mannes, aus der offenen Staatskarosse kroch. Sie wollte die Kleider nicht zurückhaben. Sie würde sie nicht in die Reinigung bringen, sondern mit nach Hause nehmen und verbrennen. Unter der Dusche ließ sie das warme Wasser langsam über ihren Körper und durch ihr Haar rinnen. Die Arme an den Seiten herabhängend, stand sie da, während sich ihre Tränen, die sie bisher hatte unterdrücken können, mit dem Wasser vermischten. Schließlich begann sie sich heftig abzureiben und versuchte verzweifelt, die Erinnerung an Kates Blut, das ihre Kleidung durchtränkt hatte, von sich abzuwaschen. Als sie schließlich aus der Dusche kam, trocknete sie sich rasch ab, ließ sich aufs Bett fallen und fiel in einen traumlosen Schlaf.
Trotz ihrer Erschöpfung schlief Sam nicht lange. Um sechs Uhr war sie wach und starrte noch eine halbe Stunde lang an die Zimmerdecke, bevor sie aus dem Bett stieg und sich anzog. Nachdem sie sich warm eingepackt hatte, machte sie einen Spaziergang am Strand und genoss den kühlen Seewind. Sie hüllte sich eng in ihre dicke Wolljacke, setzte sich auf eine Bank am Meer und rekonstruierte in Gedanken den gestrigen Tag und ihren Anteil daran. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie arrogant sie gewesen war. Hätte sie sich nicht in diese Ermittlung hineingedrängt, so wäre Kate noch am Leben, Sharman säße vermutlich nicht im Gefängnis, sie hätte ihren Job nicht gekündigt und das ganze Chaos, von dem sie nun glaubte, dass sie persönlich es angerichtet hatte, wäre nie passiert. Es war alles ihre Schuld, das sah sie jetzt ein. Von nun an, schwor sie sich, würde sie bei ihrem Job bleiben, nur das tun, was von ihr verlangt wurde, und sich in nichts einmischen, was nicht ihre Angelegenheit war. Damit hatte sie freilich noch nicht das Problem gelöst, wie sie Sharman die Nachricht beibringen sollte.
Als sie aufstand, um zum Hotel zurückzukehren, wurde sie von einer Stimme hinter ihr überrascht.
»Hudd sagte mir, dass ich Sie wohl hier finden würde.«
Sie drehte sich um und sah Sharman vor sich stehen. Ihre Beine knickten ein und sie spürte, wie sie haltlos zu Boden fiel.
Als Sam zu sich kam, saß sie wieder auf der Bank. Ihr Kopf hing zwischen ihren Knien. Nach einer Weile hob sie den Kopf und spürte Sharmans Hand. »Es ist alles okay, Stan, ich bin wieder da. Tut mir Leid.«
Sharman ließ sie los und Sam richtete sich auf, immer noch schwer atmend. Als sie sich etwas erholt hatte, sah sie ihren Freund an. »Sie wissen es schon?«
Er nickte. »Adams hat es mir gesagt.«
»Hat ihm wohl Spaß gemacht?«, sagte sie müde.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, um fair zu sein, das glaube ich nicht. Darum bin ich hier. Man hat mich auf seine Anweisung freigelassen.«
Sam war nicht in versöhnlicher Stimmung. »Dann
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