Der Fremde ohne Gesicht
hatte die Schar der Journalisten, die am Morgen vor John Clarkes Haus Stellung bezogen hatte, ihr Lager vor das Krankenhaus verlegt. Edward Case war auch da. Als Sam durch die Menge fuhr, prasselten wieder die Blitzlichter auf sie ein, und Leute trommelten gegen ihren Wagen und schrien ihr durch die dicht geschlossenen Fenster Fragen zu. Bei all dem Lärm verstand sie kein Wort. Warum benahmen diese Leute sich wie ein Haufen Straßenkater, die sich um den letzten Fischschwanz stritten? Als sie endlich die Tiefgarage erreichte, tanzten ihr immer noch schwarze Flecken von den Blitzlichtern vor den Augen. Wie schafften es eigentlich berühmte Leute, nicht irgendwann blind zu werden?
Jean erwartete sie schon in ihrem Büro, als sie hereinkam. Sie sah ihre Chefin ernst an. »Haben Sie Zeit für einen Kaffee, bevor Sie anfangen, Dr. Ryan?«
Sam lächelte ihre Sekretärin an. »Ja, bitte, Jean. Aber nicht zu heiß, viel Zeit habe ich nicht.«
Sie ging hinüber zu ihrem Schreibtisch und setzte sich. »Übrigens, das Telefon hat die ganze Zeit nicht stillgestanden. Größtenteils Presse. Ich habe der Zentrale Bescheid gesagt, dass sie die Anrufe filtern sollen. Müsste also jetzt ruhiger werden. Die Leute von der Polizei erwarten Sie in der Leichenhalle.«
»Nun, dann werden sie eben noch ein bisschen länger warten müssen«, sagte Sam ungeduldig.
Jean registrierte ihre Stimmung und beschloss, leise zu treten. »Ach, und Dr. Stuart würde Sie gerne sprechen, wenn Sie zwischendurch einen Moment Zeit haben.«
Sam blickte zu ihr auf. »Tja, da wird er wohl sehr lange warten müssen, nicht wahr, Jean?«
Nach dieser Erwiderung hielt es Jean für klüger, die übrigen Neuigkeiten wie den Besuch von Superintendent Adams für sich zu behalten.
Sam betrachtete den Stapel Papiere auf ihrem Schreibtisch. »Was ist denn das alles, Jean? Ich habe doch letzte Woche erst meinen Schreibtisch abgearbeitet.«
Jean lächelte nervös. »Ich habe die dringendsten Sachen obenauf gelegt und dann versucht, nach der Wichtigkeit abwärts zu sortieren.«
Sam schüttelte verzweifelt den Kopf. »Hier komme ich nie wieder raus. Ich werde an diesem Schreibtisch sterben und immer noch nicht alles geschafft haben.«
Jean zog sich langsam aus dem Büro zurück. »Ich gehe den Kaffee holen.«
Nachdem sie die wichtigsten Verwaltungsdinge erledigt hatte, die unerlässlich waren, um ihre Abteilung vor dem Zusammenbruch zu bewahren, machte sich Sam auf den Weg hinunter in die Leichenhalle. Ihren Kaffeebecher nahm sie mit, um ihn unterwegs auszutrinken, bevor die Obduktion begann. Als sie die Leichenhalle betrat, rief sie ihrem frisch aus dem Urlaub zurückgekehrten Assistenten zu: »Na, dann wollen wir mal, Fred.«
Fred tauchte hinter einer Ecke auf, legte einen Finger an die Lippen und deutete in die Richtung des kleinen, an die Leichenhalle angrenzenden Zimmers, das es Angehörigen und Freunden ermöglichte, die Leichname unbeobachtet zu identifizieren. Sam zog den Kopf ein, verlangsamte ihren Schritt und ging peinlich berührt in ihr kleines Büro, um sich vorzubereiten. Kurz darauf hörte sie ein leises Klopfen an der Tür und blickte auf. Es war Trevor Stuart. Er machte ein sehr ernstes Gesicht.
»Mr. Clarke würde Sie gerne sprechen, wenn es möglich ist, Dr. Ryan.«
Dr. Ryan. Seit sie Trevor Stuart kannte, hatte er sie noch nie so formell angeredet. Sie fragte sich, wer da wohl mithörte. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Wenige Augenblicke später betrat der Abgeordnete John Clarke den Raum, begleitet von Chief Constable Robert Shaw. Es war das erste Mal in all ihren Jahren im Park Hospital, dass der Chief Constable sich in der Leichenhalle blicken ließ, ebenso wie an einem Tatort, soweit sie sich erinnern konnte. Sam bot ihnen zwei Stühle auf der anderen Seite ihres Schreibtisches an, während Trevor Stuart angespannt bei der Tür stand und wartete.
»Mr. Clarke, äh, John würde Ihnen gern ein paar Fragen zur Vorgehensweise stellen, wenn Ihnen das recht ist, Dr. Ryan?«
Sam nickte und wandte ihre Aufmerksamkeit Clarke zu. Ihm war der Schlag anzusehen. Sein Gesicht war rot und fleckig, seine Augen verquollen und feucht. Er sprach nervös und abgehackt.
»Ich weiß, dass Sie Ihre Aufgabe erfüllen müssen, Dr. Ryan.« Er unterbrach sich und atmete tief durch, um seine Fassung zurückzugewinnen. Shaw legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. »Aber könnten Sie sie, soweit es geht, so schonend behandeln wie
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