Der Fremde ohne Gesicht
schaute sich Sam im Raum um. Wie immer waren die üblichen Verdächtigen anwesend. Meadows, Adams, ein Vertreter von der Gerichtsmedizin und eine ganze Schar von Tatort-Spezialisten. Der Einzige, der durch Abwesenheit glänzte, war Sharman. Sie fragte sich, wo er steckte.
»Wo ist Detective Sergeant Sharman?«
Adams antwortete nicht, sondern überließ die Drecksarbeit Meadows. »Er ist einem anderen Fall zugeteilt worden.«
Sam nickte. Sie kannte den Polizeijargon. Wer von einem Fall abgezogen wurde, hatte sich meistens einen Verweis eingehandelt, in diesem Fall vermutlich dadurch, dass er auf Adams’ Platz geparkt hatte. Polizisten verteidigen ihre Parkplätze mit Zähnen und Klauen wie ein Revier.
Eigentlich mochte sie es nicht, wenn so viele Leute im Raum dabei waren, während sie eine Obduktion durchführte, besonders Polizisten, aber sie wusste, dass es nicht zu vermeiden war. Es war wichtig, dass die Polizei während der Obduktion die Beweisaufnahme führte. Das ersparte Sam eine Menge Zeit vor Gericht. Außerdem trugen sie die Verantwortung dafür, dass die Beweisstücke richtig beschriftet und gelagert wurden. Gelegentlich verblüfften sie Sam sogar damit, dass sie eine relevante Frage stellten. Darum überraschte es Sam, dass Sharman nicht da war – er war gut darin. Manchmal besser, als ihr lieb war.
Als der Fotograf fertig war, untersuchte Sam die Augen. »Eine genaue Untersuchung der Bindehäute ergibt eine Rötung durch Blutungen, wie sie für gewöhnlich bei Ersticken auftreten.«
Sie arbeitete sich weiter abwärts vor, während Fred die gleißend helle Lampe immer wieder neu justierte, um jeden Schatten aus ihrem Blickfeld zu verbannen. Als Nächstes untersuchte und vermaß sie mehrere kleine Flecken auf den Brüsten und Brustwarzen der Leiche. Sie zählte sie.
»Auf beiden Brüsten und Brustwarzen befinden sich insgesamt sechzehn kleine, kreisförmige Brandmale, möglicherweise verursacht durch eine brennende Zigarette, die auf die Haut gedrückt wurde. Die rechte Brustwarze ist stark geschädigt. Ähnliche Verletzungen sind sowohl an der Vagina als auch am Anus zu finden. Weitere oberflächliche Verletzungen befinden sich an Lippen, Brust und Hals.« Sie wandte sich an den Fotografen. »Ich hätte gerne mehrere Nahaufnahmen von diesen Verletzungen.«
Dann wandte sie sich an Flannery. »Colin, könnten Sie mir eine kleine Zeichnung machen, um die Lage der Verletzungen am Körper festzuhalten?«
Flannery nahm seinen Block zur Hand und machte sich sofort an die Arbeit. Sam trat zurück, um ihm und dem Fotografen Platz zu machen. Als sie fertig waren, wandte sie sich an Fred: »Würden Sie sie bitte auf die Seite drehen, Fred?«
Fred trat vor und drehte den Leichnam wie angewiesen, worauf Sam ihn sorgfältig untersuchte. »Trotz einer ausgedehnten Hypostase scheint die Rückseite des Leichnams frei von jeglichen Verletzungen und Spuren zu sein.« Sie nickte Fred zu, der die Leiche wieder auf den Rücken wälzte.
Als Nächstes nahm sie Abstriche von Vagina und Anus und wurde schnell fündig. »Im Innern der Vagina befinden sich offenbar deutliche Spuren von Samenflüssigkeit.« Auch von Mund und Brustwarzen machte sie Abstriche. Sowohl die Gesäßspalte als auch der Anus wiesen Risse und Verletzungen auf, was mit großer Sicherheit auf anale Vergewaltigung schließen ließ. Diese Frau hatte eine Menge durchmachen müssen, bevor sie ermordet wurde. Sam nahm sich ein Skalpell vom Tablett und schaute in die Runde, als hätte sie eine monumentale Mitteilung zu machen, was in gewisser Hinsicht auch der Fall war. »Ich werde jetzt die Leiche öffnen.«
Sie setzte das Skalpell am Hals an und zog es in der Mitte des Oberkörpers herab bis zum Schambein, wobei sie wie üblich den Nabel umging, der schwer zu schneiden und noch schwerer wieder zuzunähen war. Dann führte sie einen V-förmigen Einschnitt am Hals, sodass die Vorderseite des Halses für eine separate Untersuchung entfernt und der Kehlkopf entnommen werden konnte. Jetzt wurde es ernst.
Nachdem Sam die Obduktion beendet hatte, überließ sie Fred das Zunähen. Wie sie es versprochen hatte, war sie so behutsam wie möglich vorgegangen. Sie hielt sich gern zugute, all ihre Leichen mit demselben Respekt zu behandeln, doch manchmal war das nicht einfach, besonders, wenn es so viele gab wie in der letzten Zeit. Als sie sich schließlich von Sophie Clarkes Leichnam abwandte, legte sie Fred eine Hand auf die Schulter: »Seien Sie vorsichtig
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