Der Fremde ohne Gesicht
Zeit, Tom.«
»Na, das ist doch schon etwas, wenigstens sagst du wieder Tom zu mir.«
Tränen liefen über Sams Gesicht und hinterließen Spuren aus Wimperntusche.
»Aber nicht in der Öffentlichkeit, was?«
Er schwieg einen Moment. »Du kannst mich Tom nennen, wann immer und wo immer du willst. Es stört mich nicht.«
Adams einlenkende Haltung war zu viel für Sam. »Tom, ich muss Schluss machen. Wirklich, tut mir Leid, es ist gefährlich, so zu fahren. Wir unterhalten uns später. Bis dann.« Sie schaltete das Handy ab und stützte ihre Stirn aufs Lenkrad. Ihre Augen waren so voller Tränen, dass sie kaum ihr Haus erkennen konnte, das nur ein paar Meter entfernt vor ihr stand.
Als sie zurück zur Vorderseite des Hauses gingen, packte Meadows plötzlich Sharman am Arm. »Warte mal, Stan.«
Sharman spähte durch eine Lücke in der Hecke und sah mehrere hoch dekorierte Beamte über die Einfahrt hinweg auf das Haus zugehen. Einer von ihnen war unverkennbar Robert Shaw, der Chief Constable. Noch ein Paar schwere Nagelstiefel, die auf dem Tatort herumtrampeln würden, dachte er. Ob Flannery den Chief wohl ebenso zurechtweisen würde, wie er es mit ihm getan hatte? Vermutlich, so wie er Flannery kannte. Nicht, dass Sharman viel mit hochrangigen Beamten zu tun hatte. Wenn er konnte, mied er sie wie die Beulenpest. Shaw gehörte zu der neuen Generation von Polizeichefs, ein intellektueller Liberaler, aber das war ja heute jeder. Sie schienen alle miteinander zu wetteifern, wer der Liberalste von allen war und am meisten Eindruck auf die Politiker machte. Zu dumm, dass sie nicht miteinander wetteifern konnten, wer die meisten Verbrecher einlochte.
»Wäre nicht gut, wenn der Chef mich jetzt sehen würde, was, Dick?«
Sharman hatte es heraus, Meadows in Verlegenheit zu bringen. In der modernen Polizeiarbeit war Sharman einfach ein Risikofaktor. Nicht nur, dass er viel zu unkonventionell war, um es zu etwas zu bringen, er konnte auch hervorragend alle, die ihn unterstützten, mit sich herunterziehen. Meadows wusste, dass er ihn brauchte, aber ihm war auch klar, dass er genügend Distanz zu ihm halten musste. Für alle Fälle. Sobald die Luft rein war, schob er Sharman hinaus auf die Einfahrt.
»Ruf mich morgen an, Stan, ich schaue mal, was ich habe.«
Sharman ging hinüber zu seinem Wagen. »Ja, geht klar, Dick.« Bevor Meadows noch etwas antworten konnte, saß Sharman in seinem Wagen und rollte die Einfahrt hinunter zum Tor. Als er hindurchfuhr, sah er Hunderte von Kegeln überall, und der junge Constable von vorhin war immer noch dabei, weitere aufzustellen. Sharman fiel der Stinkefinger wieder ein, den der Bursche ihm gezeigt hatte, und rief ihn zu sich herüber.
»Was machen Sie denn da, verdammt noch mal? Das sieht ja aus wie Katastrophenalarm auf dem Londoner Ring. Räumen Sie gefälligst die Dinger hier weg.«
Der Constable machte ein verdutztes Gesicht. »Was, alle? Aber Sie sagten doch …«
Sharman funkelte ihn an. »Scheiß drauf, was ich gesagt habe, schaffen Sie hier Ordnung. Das ist ein Befehl, verdammt noch mal.« Mit diesen Worten kurbelte er die Seitenscheibe hoch und rollte grinsend davon. Damit dürfte der Junge eine Weile beschäftigt sein. Mit etwas Glück würde Kate noch im Bett liegen, wenn er zurückkam, und dann konnte er auf ihr Angebot von vorhin zurückkommen.
2
Andrew Walker hatte seine Hunde auf den Poppy Fields spazieren geführt, seit er ein kleiner Junge gewesen war, und das war lange her. Immerhin war er jetzt fünfundfünfzig. Die Poppy Fields waren immer sein Lieblingsrevier gewesen, eine Art geheimer Garten, wo er mit seinen Gedanken und Erinnerungen allein sein konnte. Doch seit die Bautrupps angerückt waren und die Wiesen zerstört hatten, hatten er und Hunderte andere sich gezwungen gesehen, ihre Gewohnheiten zu ändern.
Jetzt musste er an dem alten Bahndamm entlanggehen. Es war keine schlechte Strecke, vielleicht acht Kilometer lang, und seinen beiden Retrievern schien sie durchaus Spaß zu machen. Es gab etliche Felder, ein paar größere Wälder und Dutzende von Kaninchen und Eichhörnchen, die die Hunde jagen konnten, aber es war nicht dasselbe und würde es auch nie sein. Außerdem war das letzte Stück des Weges nicht gerade schön. Er endete an einer alten, bröckelnden Eisenbahnunterführung, die offenbar seit Jahren als Müllhalde benutzt wurde. Im Winter war es noch auszuhalten, aber im Sommer stank es dort zum Himmel. Ratten gab es auch zuhauf, was
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