Der Fremde ohne Gesicht
Urlaub, den Sie sich eigentlich nehmen wollten?«, fragte Jean, amüsiert über Sams Begeisterung.
Sam lachte. »Urlaub? Dazu habe ich viel zu viel zu tun.«
Sharman wog die Star-Trek-Kassette in der Hand, die er aus Rogers’ Wohnung hatte mitgehen lassen. Die Vorstellung, dass ein Schwachkopf wie Rogers Spaß an einer Serie wie Star Trek hatte, kam ihm immer noch abwegig vor. Trekkies waren wie Trainspotter, verrückt und exzentrisch. Zu Rogers’ Charakter schien das nicht zu passen. Er schob die Kassette in sein Gerät und wartete. Nach dem BBC-2-Logo flimmerte eine der frühen Star-Trek -Episoden über den Bildschirm. Einen Moment lang beschlich Sharman ein leiser Zweifel. Er griff nach der Fernbedienung und spulte das Band vor. Die Episode lief im Schnelldurchlauf bis zu den Endtiteln. Dann wurde das Bild schwarz und verrauscht. Er hatte den Daumen schon auf der Stopptaste, als ein neues Bild erschien. Diesmal war es keine Star-Trek- Episode, sondern etwas erheblich weniger Jugendfreies.
Der Film war offenbar von einem Amateur mit einer Handkamera aufgenommen worden. Außerdem schien es schon die zweite oder dritte Kopie zu sein. Trotzdem war der Inhalt deutlich genug zu erkennen: Vier Männer begingen eine brutale Vergewaltigung an einer jungen Frau. An einer Stelle konnte man sehen, wie die Frau das Bewusstsein verlor. Einer der Männer verschwand aus dem Bild, kehrte mit einem Eimer Wasser zurück und schüttete ihn über die Frau, um sie wieder aufzuwecken. Nachdem sie mit ihr fertig waren, nahm einer der Männer eine Schnur von einem Tisch neben dem Bett und strangulierte die sich immer noch wehrende Frau unter dem Gejohle seiner Freunde zu Tode.
Sharman sah sich das Video zweimal an. Es war ein grauenhaftes Szenario. Während seiner Zeit beim Sittendezernat hatte er eine Menge ähnliches Zeug zu sehen bekommen. Er war sich nie sicher, ob diese Snuff-Filme echt waren oder nur gut gespielt und mit ein paar Spezialeffekten angereichert. Die Männer sahen osteuropäisch aus, während die Frau jung und attraktiv war und, wie Sharman zugeben musste, wirklich Angst und Schmerz zu empfinden schien. Doch bevor er gegen Rogers vorging, wollte er das Band einem alten Freund zeigen, Detective Inspector Panna vom Sittendezernat. Das Band war eine ziemlich abscheuliche Sache, wie man es auch immer betrachtete, aber wenn die Szene echt war, dann konnte es durchaus sein, dass Rogers auch ein Heimvideo von Mrs. Clarkes qualvollem Ableben in seiner Sammlung hatte. Auch wenn es sein Vorteil war, war er doch überrascht, dass die örtliche Polizei die Bänder übersehen hatte, als sie seine Wohnung durchsuchten. Die neue Polizei, dachte er zynisch. Immer hübsch nett und verständnisvoll. Der ganze Beruf ging vor die Hunde.
Sam parkte am New Court neben zwei uralten, verbeulten Mercedes-Limousinen. Zu Fuß ging sie an dem Verkehrskreisel mit der riesigen Kastanie in der Mitte vorbei in den Neville’s Court und zum Aufgang »I«. Sie liebte die alten hölzernen Treppen, die im Lauf der Jahrhunderte von Tausenden von Füßen ausgetreten worden waren. Oft dachte sie darüber nach, welche berühmten Leute wohl vor ihr genau diese Stufen emporgestiegen waren. Cambridge, und besonders das Trinity College, schien mit Geschichte getränkt zu sein. Als sie »I5« erreichte, klopfte sie kräftig an die Tür.
»Sie klingen wie die Polizei, kommen Sie herein.«
Sam schob die alte Eichentür auf und trat ein. In der Mitte des Raumes saß Peter Hudd und zeichnete eine der Rekonstruktionen ab, die er gerade fertig gestellt hatte. Er blickte auf.
»Sie müssen Dr. Ryan sein. Kommen Sie herein, ich bin entzückt.«
Hudd war kleiner, als Sam erwartet hatte, vielleicht 1,68, schlank und sehr gut aussehend. Er hatte einen langen Schopf blonder Haare, blaue Augen und ein sympathisches Lächeln. Außerdem war er ein typischer Vertreter seiner Schicht. Ein ehemaliger Internatsschüler, der voller Selbstvertrauen in die Welt und das vor ihm liegende Leben blickte.
»Bitte, setzen Sie sich.«
Wenn Leute von Hudds Herkunft einen zu etwas aufforderten, hörte sich das oft wie ein Befehl an, was Sam immer wieder irritierte. Ihre Nackenhaare sträubten sich, doch sie folgte der Aufforderung. Schließlich war sie hier, um einen Gefallen zu erbitten.
»Nun, Dr. Ryan …«
Sam unterbrach ihn. »Sam.«
Hudd fuhr mit seiner Zeichnung fort, ohne aufzublicken. »Gut, Sam. Also, was kann ich für Sie tun?«
»Sie können mir helfen,
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