Der Fremde ohne Gesicht
kann da nichts machen, außer dass ich das Band an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag weiterleite.«
Sharman war verwirrt. »Wieso denn das?«
Panna zögerte einen Moment. Die Existenz dieser Videos war fast ein Staatsgeheimnis und er war sich nicht sicher, ob er seinem alten Freund gefahrlos davon erzählen konnte. Schließlich rang er sich durch. Er kannte Sharman schon seit vielen Jahren.
»In den letzten Jahren ist Europa von Hunderten, wahrscheinlich sogar Tausenden dieser Videos überflutet worden. Interpol hat die Herkunft der Bänder nach Bosnien zurückverfolgt. Während des Krieges dort wurden auf beiden Seiten Hunderte von jungen Mädchen vergewaltigt und ermordet. Ein paar Arschlöcher sind dann wohl auf die Idee gekommen, dass sich damit etwas verdienen lässt. Von da an mussten die jungen Frauen nicht nur Folter, Vergewaltigung und Mord über sich ergehen lassen, sondern jemand filmte das Geschehen auch noch und machte damit ein kleines Vermögen auf dem Porno-Schwarzmarkt.«
Sharman war immer stolz darauf gewesen, schon so ziemlich alles gesehen und gehört zu haben, aber das hier war der Gipfel.
Panna fuhr fort: »Unsere einzige Chance ist es, die Bänder an das Kriegsverbrechertribunal zu übergeben und zu hoffen, dass einige der Gesichter wieder erkannt werden.«
»Und was ist mit denen, die die Dinger vertreiben?«
»Selbe Situation, nur ist die Chance, sie zu finden, geringer. Wenn du so weit bist, mir zu sagen, wo du das herhast, können wir versuchen, die Videos zur ihrer Quelle zurückzuverfolgen. Dummerweise werden die meisten über das Internet vertrieben, sodass sich die Spur gleich am Anfang verliert. Weißt du, ob deine Quelle noch mehr davon hat?«
»Könnte sein.«
»Wenn du mir den Rest beschaffen kannst, mache ich mich an die Arbeit. Diese Bänder müssen verschwinden.«
Sharman stand auf. »Gib mir ein oder zwei Tage. Ich schaue mal, was sich machen lässt.«
Panna war noch nicht fertig. »Hat das irgendwas mit dem Mordfall Clarke zu tun?«
Sharman zögerte einen Moment, unsicher, was er sagen sollte. Doch Panna hatte ihm eben Vertrauen gezeigt. Es brachte nichts, seinen alten Freund anzulügen. Außerdem wusste Panna sowieso schon Bescheid; er wollte nur die Bestätigung hören. »Ja.«
»Dachte ich mir. Sei vorsichtig, Stan. Ich kann Adams nicht leiden, aber er ist gefährlich. Du steckst schon zu tief in der Scheiße, mach es nicht noch schlimmer. Es heißt, er hat es auf dich abgesehen und wird nicht locker lassen, bis er dich fertig gemacht hat.«
»Danke, Maurice, aber mir ist nur zu bewusst, was Adams mit mir vorhat.«
»Du bist in der Zwickmühle, Stan. Selbst wenn du es diesmal überstehst, verlierst du am Ende doch. Er sitzt am längeren Hebel.«
Sharman wusste, dass sein Freund Recht hatte, aber er konnte nicht anders. Wenn er schon unterging, dann im Kampf.
Sam war frühzeitig ins Krankenhaus gegangen, um nach Möglichkeit etwas von dem liegen gebliebenen Papierkram zu erledigen. Jean hatte die Ordner schon nach der Dringlichkeit vorsortiert. Es hätte ihr nicht so viel ausgemacht, wenn nicht das meiste davon Routinekram gewesen wäre, der keinem anderen Zweck zu dienen schien, als die Existenz der Aktenschieber im Krankenhaus zu rechtfertigen. Jean erschien um neun und machte Kaffee. Sam freute sich immer darauf, sie zu sehen. Seit ihre Schwester Wyn aus dem Haus ausgezogen war, gab es Zeiten, wo sie sich einsam fühlte. Zwar kam Wyn sie regelmäßig besuchen, aber das war nicht dasselbe. Normalerweise kam sie gut allein zurecht und mit den Reparaturen am Haus, die sie größtenteils selbst erledigte, der Gartenarbeit und dem Chor im Dorf war ihre Zeit gut ausgefüllt. Doch in ruhigeren Momenten, meist abends, verspürte sie das Bedürfnis nach Gesellschaft. So war es immer eine willkommene Entspannung, mit Jean über den Tag und ihre Probleme zu reden. Ihre Assistentin verfügte zwar nicht über ihre wissenschaftlichen Kenntnisse, aber sie hatte jede Menge gesunden Menschenverstand, auf den Sam gern hörte. Es gab Augenblicke, in denen sie wirklich nicht wusste, was sie ohne sie tun würde.
Um zwei klopfte es an Sams Bürotür und Jean trat ein. »Mr. Hudd ist hier, Doktor. Soll ich ihn hereinschicken?«
Sam überlegte einen Moment. Sie kam gerade gut vorwärts. Noch zwanzig Minuten und sie würde den wichtigsten Teil des liegen gebliebenen Papierkrams geschafft haben. Aber sollte sie deswegen Peter Hudd warten lassen? Am Ende würde er
Weitere Kostenlose Bücher