Der Fremde ohne Gesicht
gerecht werden, wenn ich ihr Gesicht nicht richtig kenne.«
»Sehr viel gab es nicht mehr zu ertasten.«
Er sah sie wieder an. »Es war genug. Ich habe jetzt ihre Seele in meinen Händen.«
Sam war nicht sicher, ob er es ernst meinte oder nur Künstlerjargon von sich gab. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. »Und wie geht es weiter?«
»Ich werde meine Zeichnungen machen und dann anfangen, an der Rekonstruktion zu arbeiten.«
»Wie lange wird das dauern?«
Er dachte einen Moment über die Frage nach. »Etwa eine Woche.«
Sam zuckte zusammen. Das war zu lange. »Ginge es unter Umständen auch schneller?«
»Es wird nicht einfach. Ich brauche Zeit, wenn ich es richtig hinkriegen soll. Mal sehen, vielleicht schaffe ich es in vier Tagen.«
Sie sog die Luft durch die Zähne, aber Hudd gab nicht nach. »Tut mir Leid, aber schneller geht es auf keinen Fall. Und vergessen Sie nicht, ich sagte, vielleicht schaffe ich es in vier Tagen.«
Sie zuckte die Achseln. Glücklich war sie nicht darüber, aber was konnte sie schon machen?
»Wenn es nicht geht, geht es eben nicht. Machen Sie es nur gut. Ich wüsste gern, wer sie war, wissen Sie?«
Er lächelte sie an. Inzwischen war es ihm ebenso wichtig wie ihr, die Identität der Toten herauszufinden. »Keine Sorge, es wird meine beste Arbeit, die ich bislang geliefert habe. Aber jetzt muss ich wirklich los, sonst bekommen Sie sie nie zu Gesicht.«
Nachdem sie Peter Hudd hinausbegleitet hatte, kehrte Sam nach oben in ihr Büro zurück. Vor ihren Augen stand immer noch die Szene, die sie gerade beobachtet hatte. Jean erwartete sie.
»Komischer Kauz.«
»Sie wissen doch, wie diese Künstlertypen sind, Jean.«
Die Sekretärin warf Sam einen viel sagenden Blick zu. Sie war viel zu praktisch veranlagt, um mit Leuten wie Hudd viel Geduld zu haben. »Die meisten haben ständig den Kopf in den Wolken.«
Sam lächelte sie an. Jean hatte Recht, aber sie musste zugeben, dass sie für diesen speziellen Künstlertypen etwas übrig hatte. »Ist das nicht bei fast allen Studenten in Cambridge so?«
Jean schnaufte. »Bei fast allen Studenten in Cambridge und anderswo. Hat er wenigstens seine Arbeit gut gemacht?«
»Das werde ich erst wissen, wenn ich sie sehe, aber ich bin optimistisch.«
»Wie lange wird es dauern, bis wir einen Blick darauf werfen können?«
»Vier Tage. Wenn wir Glück haben.«
Jean machte ein skeptisches Gesicht. »Wir werden sehen. Was haben Sie jetzt vor?«
Ihr Pessimismus machte Sam nervös. »Ich denke, ich versuche erst einmal, mit dem Papierkram fertig zu werden.«
»Aber Sie sollten sich doch eigentlich ein paar Tage frei nehmen«, protestierte Jean empört.
Sam deutete auf den Stapel Papiere auf ihrem Schreibtisch. »Das Zeug da erledigt sich nicht von selbst, Jean. Ich werde mich besser fühlen, wenn ich das hinter mir habe.«
Jean nickte, immer noch etwas verschnupft. »Vermutlich. Kaffee?«
»Ja, bitte, Jean, der wird mich eine Weile auf den Beinen halten. Wenn ich hier fertig bin, muss ich mir die Nachmittagsliste vornehmen.«
Diese neue Wendung gab Jean den Rest. »Nachmittagsliste? Aber es ist doch Dr. Dixsons Schicht?«
»Er hatte einen Gerichtstermin und irgendjemand muss es ja machen.«
»Ja, aber warum ausgerechnet Sie?«
»Ich bin offenbar die Einzige, die noch hier ist.«
»Was ist mit Dr. Stuart?«
»Der leitet gerade eine Konferenz.«
Jean schüttelte den Kopf. »Wie, schon wieder? Demnächst wird er noch eine Supermarktkette eröffnen.«
Sam lachte über ihre missbilligende Miene.
»Wie viele Leichen sind es denn?«
Sam studierte ein Blatt auf ihrem Schreibtisch. »Neun.«
»Ich fürchte, jetzt sind es zehn.« Jean zeigte ihr ein weiteres Blatt.
Sam warf ihr einen verzweifelten Blick zu. »Was?«
»Ein Mann mittleren Alters, der heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit gestorben ist. Offenbar ein Herzanfall.« Jean warf einen Blick auf das Blatt. »Hat ganz in meiner Nähe gewohnt. Aber der Name sagt mir nichts.«
Sie reichte das Blatt Sam, die es nahm und überflog. »Also zehn. Das dürfte ja wohl zu schaffen sein.«
Sie wusste, dass sie es bereuen würde, das gesagt zu haben.
Ein lautes Klopfen an der Bürotür unterbrach ihr Gespräch. Jean öffnete und drehte sich im nächsten Moment verwirrt und überrascht zu Sam um. »Superintendent Adams. Soll ich … wollen Sie …?«
Sam half ihr aus der Verlegenheit. »Schon gut, Jean. Herein, Superintendent.«
Jean beäugte Tom Adams misstrauisch, als er
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