Der fremde Sohn (German Edition)
hatte.
Sie taten Carrie leid. Alle ihre Gäste taten ihr wirklich leid. Die Schuld brannte tief in ihrer Brust, und es machte sie traurig, dass sich das Leben der Leute, die in ihrer Show auftraten, trotz aller späteren Hilfsangebote niemals ändern würde. Doch gleich darauf durchflutete Carrie wie eine warme Strömung das Gefühl der Sicherheit, in dem sie badete, das sie antrieb und dem sie ihren grandiosen Erfolg verdankte.
Ich bin nicht so wie sie.
Noch einen Hauch von Lipgloss, dann schritt sie wieder auf die Bühne und blickte lächelnd in die Kamera, während sie sich anschickte, diese erbärmliche Familie hinter ihr auseinanderzunehmen.
Brody Quinell lag im Dunkeln und überlegte, was da so stank. Vielleicht waren es die Fastfoodverpackungen der vergangenen Abende oder wieder einmal die Abflussrohre. Vielleicht kam es aber auch aus der Wohnung über ihm. Das waren Schweine. Aber eigentlich störte ihn der Geruch nicht besonders. Er mochte es, im Dunkeln zu liegen, die Herbstsonne, die durch das Fenster fiel, auf seiner Haut zu spüren und sich einzubilden, er läge am Strand. Jamaika. Er hörte Musik – das dumpfe Dröhnen von Bässen –, doch es war kein Reggae und auch keine Steeldrum, sondern irgend so ein Emopunk-Gejaule. Es gefiel ihm ganz gut. Das Dröhnen ging durch seinen ganzen Körper. Draußen auf dem Flur schrie jemand, und ein kleines Kind weinte. Die Musik wurde lauter.
In Brodys Hemdtasche vibrierte sein Handy. »Ja«, meldete er sich. Wahrscheinlich die Uni. Heute wollte er nicht an Arbeit denken, sondern nur ungestört in der Dunkelheit liegen. Doch plötzlich richtete er sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. »Tatsächlich?« Um wach zu werden, rieb er sich mit seinen großen Händen über das müde Gesicht. »Bis du sicher?« Das langsame, nachdrückliche Ja weckte Brody endgültig auf. »Scheiße«, sagte er und tastete nach seiner Kleidung. »Halt die Stellung, ich bin in zwanzig Minuten da. Sorg dafür, dass nichts nach außen dringt, klar? Du darfst mit niemandem reden.«
Während er sich mit seiner Jeans abmühte, wählte Brody Fionas Nummer. »Na los … komm schon … geh ran … Fiona, du musst sofort rüberkommen. Es ist was passiert.«
»Ich bin schon unterwegs, Professor«, antwortete sie in ihrer typischen superpatenten Art.
Kurz darauf klopfte es an der Tür. Das Handy noch immer am Ohr, ein Bein in der Jeans, durchquerte Brody das Zimmer, um zu öffnen. Das Hemd hatte er noch nicht angezogen.
»Wie ich sehe, bist du schon fast fertig«, bemerkte Fiona beim Eintreten. Sie klappte ihr Handy zu. »Hier drin stinkt’s, Brody.« Schnuppernd ging sie in die Küche, wo sie den Deckel vom Mülleimer fegte, den Inhalt der Mülltüte zusammendrückte und die Tüte verknotete.
»Meine Haushälterin hat sich krankgemeldet.«
»Du hast gar keine Haushälterin. Aber wenn du eine hättest, würde sie sich mit Sicherheit krankmelden.«
Brody hörte, wie Fiona die Mülltüte aus dem Eimer zog und sie draußen auf dem betonierten Laubengang abstellte, der an der Hofseite des Häuserblocks verlief und Hunderte trister Wohnungen miteinander verband. Ein Grüppchen Jugendlicher am anderen Ende des Ganges feixte und rief Fiona obszöne Bemerkungen zu. Sie schloss die Tür.
»Soll ich dir beim Anziehen helfen, oder schaffst du es allein?«, fragte sie.
Brody steckte sich eine Zigarette an. »Erst muss ich nachdenken.«
»Willst du nicht lieber sofort –« Fiona unterbrach sich. Wahrscheinlich hatte sie eingesehen, dass es besser war, ihn nicht zu stören, dachte er. Wenn es stimmte, was er gerade erfahren hatte, dann hatte er sich seine Zigarette redlich verdient. Er hatte ein Genie entdeckt.
»Wenn ich zu Ende geraucht habe.« Brody tastete auf dem Boden nach dem Aschenbecher. Der musste doch hier irgendwo sein. Als er ihn nicht fand, schnippte er die Asche aus dem schmalen Fensterspalt. Sie wurde vom Wind sofort wieder hereingeweht, doch er bemerkte es nicht.
Fiona lief in Brodys kleinem Wohnzimmer auf und ab. Er wusste, wie ungern sie in seine Wohnung kam. Normalerweise war er schon fertig, wenn sie ihn abholte, und sie zogen sofort los. Sie sagte, sie fände die Wohnung mit dem ekligen orange-braunen Teppich, den nikotingelben Wänden und den dunklen, eingestaubten Möbeln deprimierend. Hier wurde nie aufgeräumt. Unzählige Male hatte sie schon versucht, ihn zu einem Umzug zu überreden, aber er weigerte sich strikt.
»Kannst du nicht schneller
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