Der fremde Sohn (German Edition)
riesige Fensterfront, die auf den Garten mit seinem Wasserfall auf stählernem Grund, den mit Glas überdachten Gehwegen und den japanischen Pflanzen hinausging. »Ich? Gestresst?« Carrie lachte. »Warum um Himmels willen sollte ich gestresst sein?« Sie schritt durch den breiten Flur ins Wohnzimmer, wo Martha sie nicht hören konnte. »Diese dumme Person hat Milchschokolade besorgt statt weiße. Dieser ganze Küchenkram geht mir auf den Geist.«
Carrie streifte ihre Schuhe ab und kuschelte sich auf die lederbezogene Chaiselongue, die kürzlich geliefert worden war. Sie war froh, dass Leah angerufen hatte. »Muss ich das wirklich?«, fragte sie in bittendem Ton – eine Seltenheit bei Carrie –, beschwichtigt durch den melodischen irischen Akzent ihrer Freundin und Sendeleiterin. Die Aussprache erinnerte Carrie an ihr Landhaus, den Garten, das Gras. An üppiges Grün. An normale Dinge.
»Könnt ihr nicht früher kommen? Du weißt doch, ich koche nicht.« Carrie warf einen prüfenden Blick auf ihre Hände und überlegte, ob noch Zeit für eine Maniküre war, bevor sie eintrafen. »Um fünf, Schätzchen. Bitte. Und besorg mir unterwegs ein paar weiße Pralinen. Schweizer.«
Bevor Leah etwas einwenden konnte, beendete Carrie das Gespräch und ging wieder zu ihrer Haushälterin in die Küche. Da war noch einiges zu klären.
In ihrer weißen Uniform verschmolz Martha fast mit den strahlend weißen Schränken. Man sah nur ihr grauschwarzes Haar und die blauen Augen. Augen, in denen noch immer die Fassungslosigkeit über das stand, was Carrie gerade getan hatte. Diese kleine Pralinenschachtel schlug im Haushaltsbudget bestimmt mit fünfzig Pfund zu Buche.
»Wollen Sie sie wirklich nicht?« Martha blinzelte und schluckte. »Ich bräuchte nämlich ein kleines Dankeschön für meinen Arzt. Der Tumor hat nicht gestreut.«
»Was?« Carrie blickte auf und winkte lächelnd ab. Sie war schon wieder am Telefon. »Nein, nein. Nehmen Sie sie nur, Martha.« Da sie keine Verbindung bekam, legte sie das Telefon auf die Arbeitsplatte aus Granit und fügte hinzu: »Es tut mir leid, ich wollte vorhin nicht undankbar klingen.« Sie streckte die Hand nach der Schulter der älteren Frau aus. Martha arbeitete seit neun Jahren für sie und wusste viel von ihr – zu viel, wie Carrie manchmal dachte. »Wann kommt der Partyservice?«, fragte sie, zog die Hand zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Es wäre unpassend gewesen, die Haushälterin zu berühren.
Martha wurde so bleich, dass sie noch mehr mit ihrer Umgebung verschmolz. »Partyservice?«
»Ja.« Carrie lachte ein wenig nervös. »Ich habe Sie doch vor einer Woche gebeten, etwas für das blöde Essen heute Abend zu bestellen.«
»Aber … aber Sie haben doch gesagt, Sie wollten selbst kochen, weil das doch jetzt Mode ist und alle Welt es tut, um Geld zu sparen.« Martha hielt den Atem an. »Die Zutaten werden nachher geliefert, meine Liebe.«
Carrie wurde ganz ruhig, genau wie sie es im Fernsehen immer tat, bevor sie einem ihrer Gäste die Hölle heißmachte. Sie lächelte schmallippig und kniff die Augen zusammen. Ihr Kinn reckte sich ein klein wenig vor, und ihre Schultern spannten sich. Seitlich an ihrem Hals pulsierte eine Ader, die man normalerweise nicht sah, im Rhythmus ihres Herzschlags.
»Als ich sagte, dass Kochen in sei«, entgegnete sie langsam, »sollte das nicht heißen, dass ich selbst kochen will.« Dann stieß sie ein kleines Lachen aus. Sie konnte sich nicht erlauben, in Gegenwart ihrer Haushälterin die Nerven zu verlieren, denn wenn sie sie hinauswarf, würde die Frau wahrscheinlich ihre Geschichte an die Presse verkaufen, auch wenn sie sich vertraglich zur Verschwiegenheit verpflichtet hatte.
Carrie seufzte. Wenn sie beim Fernsehen etwas gelernt hatte, dann war es Selbstbeherrschung, und so fiel es ihr nicht schwer, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Die Situation war noch zu retten. Gerade noch. Sie hatte ihre Leute und genügend Geld, um ein ganzes Restaurant zu reservieren – ach was, sogar zu kaufen, wenn es sein musste. Leah hatte gesagt, der Produzent aus den USA würde gern die englische Gastfreundschaft kennenlernen. Also würde sie dafür sorgen, dass er englische Gastfreundschaft erlebte.
»Wo ist Clive heute?«, fragte sie. Ihre Gedanken rasten. War ihr Haus in Hampstead mit seinen fast vierhundert ganz in Weiß gehaltenen Quadratmetern wirklich ein Sinnbild englischer Gastfreundschaft? Dazu war es doch etwas zu nüchtern.
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