Der fremde Sohn (German Edition)
Jugendlicher, ungefähr sechzehn oder siebzehn … mehrere Stichwunden in Brust und Abdomen. Beträchtlicher Blutverlust, Schädelprellung … Blutdruck fallend, Puls schwach …«
All das vernahm sie, während sie beiseitegedrängt wurde. »Fünfzehn«, flüsterte sie vom Rand des Geschehens, doch niemand hörte sie. »Er ist fünfzehn.«
»Was ist hier los?«, blaffte plötzlich eine Männerstimme. Sie konnte sich nicht rühren. Stand sie unter Schock? Eine Hand packte sie am Arm. »Um Himmels willen, Mädchen, sag mir doch, was passiert ist!« Er riss sie unsanft herum und sah ihr aus nächster Nähe ins Gesicht. Dann brüllte er plötzlich in sein Handy, rief jemanden zu Hilfe: »Komm sofort runter, Jack! Es ist was Ernstes.« Dabei hielt er noch immer ihren Arm umklammert, als wolle er ihr die Leviten lesen, weil sie die Stunde geschwänzt hatte.
Sie blickte zu ihm auf. Mr Denton, ihr Mathelehrer.
»Also?« Er schüttelte sie. Sein Gesicht war rot angelaufen.
»Ich … ich weiß nicht«, wisperte sie. »Ich kam gerade vom Sportzentrum zurück, und … und da sah ich ihn so da liegen.« Sie schluckte. Ihr Mund war ganz trocken. Was sollte sie ihm bloß erzählen?
Wie konnte sie es überhaupt jemandem erzählen?
Am ganzen Körper zitternd starrte sie auf den blutüberströmten Boden. Er bekam jetzt Hilfe, und allein darauf kam es schließlich an. Sie würde behaupten, sie wisse von nichts und habe nichts mit der Sache zu tun. Dann würde sie einfach nach Hause gehen und später im Krankenhaus anrufen und sich nach ihm erkundigen. Bestimmt war es nicht so schlimm, wie es aussah, und alles würde wieder gut.
»Hast du was beobachtet? Einen Kampf? War sonst noch jemand hier? Nun rede doch, Mädchen!«
Sie schüttelte den Kopf und schaute den Sanitätern nach, die die Trage davontrugen und in den Rettungswagen schoben.
» Ach du Scheiße «, sagte eine Stimme. Jemand schrie auf, als er die Blutflecken auf dem Boden sah. Mit aufgerissenen Augen, die Hände vor den Mund geschlagen, standen die Leute herum und gafften.
Als sie aufblickte, sah sie, wie der Schulleiter mit langen Schritten über den Hof eilte. Hinter jedem Fenster des Gebäudekomplexes – unseres Schiffes, wie er es in seinen Ansprachen immer nannte – drängten sich Gesichter, und vom anderen Rand des öden Asphaltrechtecks, auf dem sich in den kleinen und großen Pausen zwölfhundert Teenager aufhielten, kamen Schüler und Lehrer herbeigelaufen.
Polizisten strömten durchs Schultor herein. Sie rannten zu der Stelle, wo er gelegen hatte, und warfen einen prüfenden Blick auf das Blut, die Jeansjacke und die verstreuten Pommes, als könnten sie daraus schließen, was geschehen war. Dann übernahmen sie das Kommando und drängten die Gaffer zurück. Als Mr Denton ihren Arm losließ, gelang es ihr, im Getümmel der Schüler, Lehrer und schaulustigen Passanten unterzutauchen und unbemerkt das Schulgelände zu verlassen.
Sie rannte und rannte, und die ganze Zeit dachte sie: Es wird alles wieder gut.
Herbst 2008
C arrie Kent lächelte ihr einstudiertes Lächeln und fasste an ihren Ohrhörer, über den gerade eine Anweisung des Regisseurs kam: »Bohr nach, lass nicht locker! Du musst ihn hart rannehmen, Carrie. « Als wenn man ihr das noch sagen müsste! Sie hatte nicht vor, den Typen mit Samthandschuhen anzufassen, ganz gleich, wie jung er war und wie schwer er es hatte. Denn sie wusste genau, worum es hier ging: spannendes Entertainment, eine mitreißende Sendung.
Das wird Ärger geben, dachte sie beinahe hoffnungsvoll. Während sie sich umdrehte und effektvoll über die Bühne schritt, vergewisserte sie sich mit einem raschen Blick, dass im Hintergrund auf jeder Seite der Bühne jemand vom Sicherheitsdienst stand: zwei stämmige Männer in Schwarz mit geschorenem Kopf, die Arme verschränkt. Alles in Ordnung. Sie drehte sich schwungvoll um und schaute in Kamera zwei, wobei sie den Blick zugleich auf die Fernsehzuschauer, das Publikum im Saal, das seit zehn Minuten kaum zu atmen wagte, und die Studiogäste richtete – die beste Auswahl aus den Versagern des Landes, die ihr Team für diese Woche hatte auftreiben können. Carries Markenzeichen hatte der Sendeleiter diese Geste einmal genannt. Das gefiel ihr.
»Sie wollen damit also sagen, Jason …« Sie unterbrach sich, setzte eine betroffene Miene auf und fuhr dann fort: »… dass Ihr kleiner Neffe in Wirklichkeit Ihr Sohn ist. Und jetzt fordern Sie Ihr Recht an dem kleinen
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