Der fremde Tibeter
konnte es nicht erklären.«
»Hat er den Rosenkranz verloren?«
»Nein. Er hat ihn nicht einmal vermißt. Genaugenommen hat er gesagt, der Rosenkranz habe sich bei der Verhaftung, als man ihn schlafend von seinem Lager riß, noch in seinem Besitz befunden. Vielleicht war es ein Wunder, und die Kette ist irgendwie dorthin und wieder zurück transportiert worden. Dilgo hat gesagt, es sei womöglich eine Botschaft.«
»Warum hat er nicht protestiert?« fragte Shan. »Wieso hat er nichts zu seiner Verteidigung unternommen? Wenn Sie wußten, daß er unschuldig war, weshalb haben Sie ihn dann nicht verteidigt?«
»Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan.«
»Alles?« Langsam zog Shan die Akte aus der Leinentasche, die er bei sich trug, und ließ sie zwischen ihnen auf die Bank fallen. Er hatte die Aussage gelesen, die für den Abt vorbereitet worden war. Der Abt hatte die Gewalttat verurteilt und sich im Namen des gompa und der Kirche entschuldigt.
Der Abt starrte die Akte an und blickte dann auf, ohne zu blinzeln. »Alles.«
Es war nicht richtig von ihm, bei irgendeinem der Leute Schuldgefühle zu erwarten, erkannte Shan. Alle Beteiligten des Dramas um Dilgo, vom Abt bis zu Ankläger Jao, ja sogar bis zu dem Beschuldigten, hatten ihre Rollen einwandfrei gespielt.
Der Abt stand auf und wollte wieder zu seinem Unkraut zurückkehren.
»Dann verraten Sie mir bitte folgendes«, sagte Shan zu seinem Rücken. »Haben Sie gehört, daß sich am Tatort ein buddhistischer Dämon befunden haben soll?«
Der Abt drehte sich stirnrunzelnd um. »Die alten Überlieferungen halten sich hartnäckig.«
»Demnach ist Ihnen tatsächlich ein solches Gerücht zu Ohren gekommen?«
»Immer wenn ein hoher Beamter stirbt, werden manche behaupten, irgendein Dämon oder Geist hätte Rache geübt.«
»Und auch über die betreffende Nacht hat es einen derartigen Bericht gegeben?«
»In jener Nacht war Vollmond. Ein Hirte hat behauptet, er habe auf einem Hügel oberhalb der Straße den pferdeköpfigen Dämon bei einer Art Tanz beobachtet. Den Dämon namens Tamdin. Unter den Kieseln, an denen der Direktor für Religiöse Angelegenheiten erstickt ist, hat sich auch eine Gebetsperle von einem Rosenkranz befunden. Sie hatte die Form eines Schädels, so wie Tamdin sie trägt.« Shan hatte selbst einen solchen Rosenkranz in der Hand gehalten. Den Rosenkranz eines Dämons.
»Die Einheimischen haben an der besagten Stelle einen Schrein errichtet, um ihren Beschützer zu ehren.«
Ein Tanz auf einem Hügel neben der Straße. Im Vollmond. Als wollte Tamdin gesehen werden, überlegte Shan.
»Auch nach den anderen Morden wurden Schreine gebaut. Es heißt, nach dem Mord an dem Direktor der Minen wäre Tamdin von einem Lastwagenfahrer gesehen worden. Wie ich schon sagte, es gibt immer solche Gerüchte, wenn ein Beamter stirbt. Tamdin ist bei den Leuten überaus beliebt, denn er gilt als wild und gnadenlos, wenn es um die Verteidigung der Kirche geht. Er ist ein sehr alter Dämon, einer von denen, die Landgötter genannt werden, und stammt aus der Zeit der alten tibetischen Schamanen noch vor den Tagen des Buddhismus. Auf ihrem Weg zu Buddha haben die Leute Tamdin mitgenommen.«
Von der anderen Seite des Hofs unterbrach sie plötzlich der Lärm zahlreicher Tiere. Man hatte ein Tor geöffnet, und eine große Hundemeute kam hereingelaufen. Die Priester fütterten die Hunde, mehr Hunde, als Shan jemals auf einem Fleck versammelt gesehen hatte. Er zählte mindestens dreißig Tiere, und es kamen immer noch neue durch das Tor herein.
Sergeant Feng fluchte und ließ sich neben Shan auf die Bank nieder, ohne die Hunde aus den Augen zu lassen. Drei große schwarze Mastiffs, wie sie von Hirten zum Schutz vor Wölfen benutzt wurden, beäugten die Männer mißtrauisch, als spürten sie, daß Feng und Shan Eindringlinge waren. Fengs Hand legte sich auf seine Pistole.
»Ai yi!« rief einer der Mönche, als er Fengs Reaktion bemerkte. Eilig stellte er sich vor die Hunde. »Die Tiere stehen unter unserem Schutz«, sagte er flehentlich. »Sie sind ein Teil von Khartok gompa. Sie kommen aus ganz Tibet her, um bei uns zu sein.«
»Verdammte Köter«, knurrte Feng. »Wo ich herkomme, landen die im Kochtopf.«
Der Mönch konnte sein Entsetzen nicht verbergen. »Sie sind ein Teil von uns. Diejenigen, die sich erinnern. Deshalb kommen sie her.«
»Erinnern?« fragte Shan.
»Priester, die gescheitert sind«, erklärte der Mönch. »Die Hunde sind
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