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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Reinkarnationen von Priestern, die gegen ihre Gelübde verstoßen haben.«
    Bei diesen Worten erschienen Yeshe und der chandzoe auf der Treppe. Von der anderen Seite des Hofs rief jemand ärgerlich etwas zu ihnen herüber. Der chandzoe legte Yeshe eine Hand auf die Schulter, als wolle er ihn beruhigen, während der Mönch, der noch immer auf den Stufen stand, sogleich wieder sein mudra auf Yeshe richtete.
    Da endlich erkannte Shan das mudra. Es sollte Vergebung erweisen. Schaudernd überfiel ihn eine plötzliche Einsicht, und er musterte Yeshe, als sähe er ihn zum erstenmal. Er war so blind gewesen. Er hatte Yeshe alle möglichen Fragen gestellt, doch die wichtigste Frage hatte er ausgelassen.
    Zwei Stunden später befanden sie sich an der höchsten Stelle des Passes, so daß sogar die Sterne am fernen Horizont unter ihnen lagen. Shan döste vor sich hin und wollte, daß das Gefühl, durch den Raum zu schweben, erst dann wieder aufhörte, wenn er eine Welt erreichte, in der Regierungen nicht logen, in der die Gefängnisse für Verbrecher bestimmt waren und in der niemand mit Kieseln ermordet wurde.
    Von der Rückbank hörte er ein gleichmäßiges Klicken. Yeshe hatte eine Gebetskette.
    Eine Stunde darauf bogen sie auf die Kreuzung am oberen Ende des Tals von Lhadrung ein. Shan legte Feng eine Hand auf den Arm. »Nach links.«
    »Du hast wohl die Orientierung verloren, Genosse«, brummte Feng. »Zum Lager geht es nach rechts. Nur noch eine Stunde, und wir liegen im Bett.«
    »Nach links, zur Baustelle der 404ten.«
    »Das ist doch kilometerweit ab vom Schuß«, protestierte Feng.
    »Da müssen wir hin.«
    Feng hielt den Wagen hinter der Kreuzung an. »Bis wir dort ankommen, ist es beinahe Mitternacht. Da ist um diese Zeit nichts los.«
    »Das erhöht die Chance.«
    »Die Chance?«
    »Den Geist zu treffen.«
    Feng erschauderte. »Den Geist?«
    »Ich will ihn fragen, wer ihn ermordet hat.«
    Feng schaltete die Innenbeleuchtung ein und starrte Shan an, als würde er nach einem Anzeichen dafür suchen, daß diese Äußerung als Scherz gemeint war.
    Shan erwiderte den Blick völlig regungslos. »Haben Sie Angst vor Geistern, Sergeant?«
    »Verdammt richtig«, erwiderte Feng ein wenig zu laut. Er legte den Gang ein und drehte um.
    Einen knappen Kilometer vor der Brücke wies Shan den Sergeanten an, das Licht auszuschalten. Als sie neben der Brücke langsam zum Stillstand kamen, war auf der Baustelle der 404ten nicht das geringste zu entdecken. Feng stieg aus und zog sofort seine Pistole. Shan sagte nichts, sondern machte sich zu Fuß in Richtung des Bergs auf den Weg. Nach dreißig Schritten drehte er sich um und sah, daß Feng den Wagen umkreiste, als wäre er zu dessen Bewachung eingeteilt.
    Am Ende von Tans Brücke blieb Shan stehen und schaute zum Himmel empor. Die Sterne flößten ihm nach wie vor Ehrfurcht ein. Er fürchtete, er würde sie berühren können, wenn er die Hand ausstreckte. Seine Knie zitterten.
    Er folgte dem Straßenbett bis zu dem kleinen Steinhaufen, der die Fundstelle von Jaos Leiche markierte, und setzte sich auf einen Felsen. Es war beinahe windstill. Genau jetzt würde der jungpo umgehen. Genau jetzt würden die Schutzdämonen zuschlagen. Seine Hand legte sich auf die Tasche mit dem Zauber, der ihn vor Tamdin beschützen sollte. Wie hatten die Worte aus Khordas Schädelmantra gelautet? Om padme te krid hum pbat.
    Hinter ihm bewegte sich ein Kiesel. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als neben ihm ein Schatten auftauchte. Es war Yeshe.
    »Es ist in einer Nacht wie dieser passiert«, stellte Shan fest und versuchte sich zu beruhigen. »Ankläger Jao wurde zu der Brücke gefahren. Jemand war hier. Jemand, den er kannte.«
    »Das habe ich nie verstanden. Wieso hier?« fragte Yeshe. »Es ist so weit weg von allem.«
    »Genau das ist der Grund. Die Straße führt nirgendwohin. Keine Gefahr, von zufälligen Passanten entdeckt zu werden. Einfach wieder zu verlassen.« Aber das war nicht alles. Der Berg hatte sein Geheimnis noch immer nicht preisgegeben.
    »Also sind Jao und der andere zu Fuß hergekommen«, sagte Yeshe. »Um die Sterne zu betrachten?«
    »Um zu reden. Unter vier Augen. Jemand ist unten zurückgeblieben.«
    »Der Fahrer.«
    »Ich bin hier mit Jao«, sagte Shan und versetzte sich in die Lage des Mörders, der Jao auf den Berg gelockt hatte. »Ich habe ihn hergebracht, um ihm angeblich ein Geheimnis anzuvertrauen. Aber etwas hat ihn plötzlich aufhorchen lassen. Ein loser Fels. Das Klirren

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