Der fremde Tibeter
müssen unbedingt mit ihm reden«, wiederholte Shan.
»Glauben Sie, er hat Angst davor, ein Gesicht abzuwerfen?« rief Jigme auf einmal trotzig. »Ihr Leute aus dem Norden, ihr seid eine Fliege auf seiner Schulter.« Shan sah, daß Jigme bei diesen Worten eine Träne über die Wange rollte. »Er ist ein großartiger Mann. Ein lebender Buddha. Er wird ganz leicht sterben, ohne Mühen. Er wird dieses Gesicht abwerfen und im nächsten Leben über uns alle lachen.«
Sie saßen in einem unbenutzen Marktstand im hinteren Teil des Platzes und beobachteten den Laden des Zauberers. Niemand ging hinein oder hinaus. Der Markt begann sich mit Verkaufskarren zu füllen, auf denen sich Frühlingsgemüse, junge Senfblätter und manch andere Pflanzen türmten, die woanders auf der Welt als Unkraut gegolten hätten.
Feng, der nach der vergangenen Nacht noch immer nervös war, fuhr mit der Handfläche über den Kolben seiner Pistole.
»Ich brauche fünfzig Fen«, sagte Shan.
»Wer nicht?« erwiderte Feng.
»Für Essen. Haben Sie etwas Geld übrig?«
»Ich bin nicht hungrig.«
»Wir haben kein Frühstück bekommen. Sie schon.«
Die Bemerkung schien Feng einen Stich zu versetzen, und Shan fragte sich, ob er noch immer wegen seines Spitznamens gekränkt war. Fengs Blick irrte zwischen Shan und Yeshe hin und her. »Einer von euch bleibt hier.«
Yeshe verstand den Wink und lehnte sich an die Wand zurück, als wolle er es sich gemütlich machen.
Shan streckte die Hand aus und nahm das Geld.
Feng machte eine unbestimmte Geste in Richtung der Marktstände vor ihnen. »Fünf Minuten.«
Shan verweilte kurz bei einem Stand, der Schreibwaren feilbot, und entdeckte dann eine Frau, die momos verkaufte. Er erstand zwei davon für Yeshe, kehrte dann zum ersten Händler zurück und kaufte eilig zwei Blätter Reispapier, einen Schreibpinsel und einen kleinen Tintenstift.
»Der erste Zauberspruch wurde vor ein paar Tagen erbeten«, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm.
Shan wollte sich umdrehen. Ein Ellbogen stieß ihn an. »Nicht hinsehen«, sagte der Mann.
Shan erkannte die Stimme. Es war der purba mit dem Narbengesicht. Als Shan nach unten blickte, sah er zerlumpte Filzstiefel hinter sich. Der Mann war als Hirte verkleidet.
»Diese Leute sind immer auf der Suche nach einer günstigen Gelegenheit«, sagte der purba über Shans Schulter hinweg. »Zauberer wie Khorda nehmen ihnen das Geld ab. Sie haben immer Geld. Für Leute ihres Schlages laufen die Geschäfte stets gut.«
»Ich verstehe nicht.«
»Diese Frau arbeitet in einer Buchhandlung. Sie hat vor etwa einer Woche nach dem Tamdin-Zauber gefragt. Gestern hat sie um einen Bannspruch gegen Hundebisse gebeten.«
»Sie?«
»Die Tochter eines Fleisch-Affen.«
»Ein ragyapa?«
»Straße des grünen Bambus«, lautete die Antwort.
Shan drehte sich um. Der purba war verschwunden.
Zwanzig Minuten später standen Shan und Sergeant Feng am Rand der ausgedienten Schotterstraße im Nordteil der Stadt und beobachteten Yeshe dabei, wie er die Buchhandlung auf der anderen Seite betrat. Im Innern des Ladens war kurz eine kleine, dunkelhäutige Frau zu sehen. Als Yeshe sie ansprach, wies sie auf den rückwärtigen Teil des Geschäfts und ließ den Blick nach links und rechts über die Straße schweifen, bevor sie die Tür schloß.
Weitere zehn Minuten später kam Yeshe aus dem Laden geeilt. Sein Gesicht schimmerte triumphierend. »Sie ist da«, verkündete er. »An der Tür, das war sie. Sie behauptet, sie würde aus Shigatse stammen, aber das stimmt nicht.« Er sagte, er habe nach dem Eigentümer gefragt und erklärt, er sei zu einer unangemeldeten Kontrolle der Arbeitspapiere erschienen. Als der Mann ihm nicht glauben wollte, hatte Yeshe aus dem Fenster gewiesen. Der Anblick eines offiziell wirkenden Wagens mit einem Soldaten am Steuer hatte den Mann sogleich seine Geschäftslizenz und die Arbeitspapiere des Mädchens hervorholen lassen. »Demnach ist sie vor knapp einem Jahr aus Shigatse hergekommen. Doch auf dem Weg nach draußen habe ich sie gefragt, ob sie in Shigatse auch so gern auf die Mauern der alten Festung gestiegen sei. Ja, antwortete sie, und sie habe dort öfter gepicknickt.«
»Es gibt dort noch immer eine Festung?« fragte Shan.
»Eine Festung, in Tibet? Natürlich nicht, die Kommunisten haben sie vor vierzig Jahren in die Luft gesprengt!« Er legte bei diesen Worten die Hände aneinander und riß dann die Arme hoch, als wolle er die Explosion anschaulich machen. »Es
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