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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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erduldet werden.« Shan schloß die Augen. Er spürte etwas Neues in sich aufsteigen: Wut. »Li Aiding wird meine Notizen zweifellos zu schätzen wissen. Ich werde einem dieser Offiziere der Öffentlichen Sicherheit sagen, daß ich mit Li sprechen muß. Und dann steige ich in diesen Lastwagen«, er wies auf das Fahrzeug der Gefangenen, »und kehre zu meiner Arbeitskolonne zurück.«
    Tan zündete sich eine seiner amerikanischen Zigaretten an und ging schweigend um Fengs Wagen herum. Am rechten Hinterrad blieb er stehen. Die Radkappe fehlte, und der Reifen paßte nicht zu den anderen. »Erzähle mir davon«, knurrte er, als er zu Shan zurückkehrte.
    Während Shan sprach, schaute er zu, wie die Gefangenen wieder in den Laster geladen wurden. »Ich war auf dem Hang und habe versucht zu verstehen, was in jener Nacht vorgefallen ist. Vielleicht war die genaue Zeit von Bedeutung, die Stunde, zu der er getötet wurde. Ich wollte es herausfinden. Es gab ein merkwürdiges Geräusch, wie von einem großen Tier, und dann Schüsse aus Richtung des Wagens. Ich lief nach unten. Sergeant Feng sagte, da sei ein Dämon gewesen.«
    »Dein Dämon Tamdin«, warf Tan ein.
    »Feng war hysterisch. Er sagte, der Dämon sei ganz in der Nähe und er habe ihn sprechen gehört. Ich habe mir Sorgen um ihn gemacht und um seine Pistole gebeten.«
    Tan grinste höhnisch. »Und Sergeant Feng hat sie dir einfach so ausgehändigt.«
    »Später im Lager habe ich sie ihm zurückgegeben.«
    »Ich glaube dir nicht.«
    Shan suchte in seiner Tasche herum. »Ich habe die übrigen Kugeln behalten, um sicherzugehen.« Er ließ fünf Patronen in Tans Hand fallen.
    Tan starrte die Kugeln so lange an, daß seine Zigarette ihm die Finger verbrannte. Er zuckte zusammen und warf den Stummel wütend zu Boden. Dann schaute er der Staubfahne der Lastwagen hinterher. »Alles geht den Bach runter«, murmelte er, allerdings so leise, daß Shan sich nicht sicher war, ob er die Worte richtig verstanden hatte.
    Als Tan sich wieder zu ihm umwandte, lag etwas Neues im Blick des Oberst, etwas, das Shan bislang noch nicht an ihm wahrgenommen hatte. Ein winziger Hauch von Unsicherheit. »Es dreht sich alles um dieselbe Sache, nicht wahr? Sowohl der Streik der 404ten als auch der Prozeß gegen Sungpo. Es wird ein Blutbad geben, und ich kann nichts tun, um es zu verhindern.«
    Shan sah ihn überrascht an. »Wollen Sie es denn verhindern? Sind Sie wirklich gewillt, es zu verhindern?«
    »Was glaubst du, wer ich..«, setzte Tan an, hielt jedoch inne und schaute auf die Patronen hinunter. »Feng hatte Angst. Er und ich dienen schon seit vielen Jahren zusammen. Er ist nur deshalb nach Lhadrung gekommen, weil ich auch hier war. Ich habe ihn noch nie ängstlich erlebt.« Tan ballte die Faust um die Kugeln und blickte auf. »Jao hat es verstanden. Bei unseren Kritiksitzungen pflegte er zu sagen, mein einziger Fehler sei, daß ich glauben würde, die alten Methoden würden auch in Tibet zu den gleichen alten Resultaten führen.«
    »Alte Methoden haben sich hier nicht sonderlich gut bewährt.«
    Tan blickte in Richtung der Baustelle und seufzte. »Ich werde Zhong anweisen, den Leuten wieder Proviant zukommen zu lassen. Er soll der buddhistischen Wohlfahrtsorganisation gestatten, sie einmal am Tag mit Nahrung zu versorgen.«
    Shan sah ihn ungläubig an und nickte dann langsam. »Das wäre gut.«
    »Die Amerikaner kommen«, sagte Tan geistesabwesend und schaute dann wieder zu Shan. »Du blutest.«
    Shan wischte sich noch einmal das Blut von der Lippe. »Es ist nichts.«
    Tan streckte ihm ein Taschentuch entgegen.
    Shan starrte es verblüfft an.
    »Ich habe nicht angeordnet, daß man dich schlagen soll.«
    Shan nahm das Tuch und drückte es gegen den Mund. Sergeant Feng kam aus dem Laderaum des Geländewagens gekrochen, streckte sich und gähnte. Als er Tan sah, zuckte er im ersten Moment zurück, als wolle er sich verstecken. Dann richtete er sich kerzengerade auf und ging ernst auf den Oberst zu.
    Sein Blick irrte unbeholfen von Shan zu Tan. »Ich erbitte die Zuweisung einer neuen Aufgabe, Sir«, sagte er und richtete den Blick auf seine Stiefelspitzen.
    »Aus welchem Grund?« fragte Tan barsch.
    »Weil ich ein alter Narr bin. Ich habe meine Pflicht nicht aufmerksam genug erfüllt, Sir.«
    »Genosse Shan«, sagte Tan, »hat Sergeant Feng es letzte Nacht irgendwann an Aufmerksamkeit mangeln lassen?«
    »Nein, Oberst«, erwiderte Shan. »Sein einziger Fehler hat darin bestanden, daß er

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