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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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genannt wurden.
    »Ich möchte mehr über diesen Schrein wissen«, sagte er zu Yeshe und Feng, als sie den Wagen abstellten. »Sucht nach einem Weg dort hinauf. Versucht herauszufinden, wer den Schrein errichtet hat und woher die Leute gekommen sind.«
    Yeshe legte den Kopf in den Nacken und schaute neugierig zum Schrein empor. Dann ging er los, ohne sich noch einmal umzudrehen. Feng bedachte Shan mit einem mürrischen Blick.
    Dann aber zuckte er die Achseln, überprüfte die Munition in seiner Pistole und lief Yeshe hinterher.
    Das Büro der Mine war beinahe leer, als Shan eintrat. Die Frau, die den Tee serviert hatte, saß schlafend auf einem Hocker und hatte sich an die Wand gelehnt. Zwei Männer in schmutziger Arbeitskleidung standen über den großen Tisch gebeugt. Einer nickte Shan grüßend zu, als dieser sich näherte. Es war Luntok, der ragyapa-Ingenieur. Die rote Tür am Ende des Raums war auch diesmal wieder geschlossen. Man hörte dahinter Stimmen und das leise Summen elektronischer Geräte.
    Die beiden Männer nahmen Abmessungen auf einer der bunten Karten vor, die Shan zuvor schon gesehen hatte. In der Mitte befand sich ein blaues Rechteck, darunter mehrere Reihen kleinerer blaugrüner Rechtecke. Plötzlich erkannte Shan die Abbildungen.
    »Das sind die Teiche, nicht wahr? Ich habe noch nie eine solche Karte gesehen«, staunte er. »Fertigen Sie die hier selbst an?«
    Luntok blickte auf. »Das ist besser als eine Karte. Es ist ein Foto. Von oben, von einem Satelliten.«
    Shan starrte ihn verblüfft an. Satellitenfotos lagen nicht jenseits seiner Vorstellungskraft; er hatte hier lediglich nicht damit gerechnet. Tibet existierte fürwahr in vielen verschiedenen Jahrhunderten zugleich.
    »Wir müssen über die Schneeschmelze Bescheid wissen«, erklärte Luntok. »Über den Pegelstand und Verlauf der Flüsse, über Lawinen oberhalb von uns, über den Zustand der Straßen, wenn die Lieferungen verschickt werden. Ohne diese Bilder würden wir jede Woche Beobachtungsteams in die Berge schicken müssen.«
    Luntok wies auf die Teiche der Mine, die Gebäude des Lagers und ganz am linken Rand auf eine Ansammlung geometrischer Formen, die den Außenbezirk der Stadt Lhadrung darstellten.
    Mit dem Finger umriß er den großen Damm am oberen Ende des Drachenschlunds, legte die Karte dann beiseite und wies auf ein zweites, früheres Foto. »So hat das vor zwei Wochen ausgesehen, kurz bevor die Arbeiten daran abgeschlossen wurden.« Ungefähr in der Mitte des Damms sah Shan ein paar Farbflecke, bei denen es sich um Arbeitsmaschinen handeln mußte.
    »Aber wie kommt man an solche Bilder?«
    »Es gibt einen amerikanischen und einen französischen Satelliten. Wir haben Abonnements. Die Oberfläche der Erde ist in einzelne Sektionen unterteilt. Aus einem Katalog können wir das Bild einer bestimmten Sektion per Angabe der Nummer anfordern. Dieses Bild wird dann an unseren Computer übertragen«, sagte er und deutete mit dem Daumen auf die rote Tür.
    »Aber die Armee...«
    »Es gibt eine Lizenz«, erklärte Luntok geduldig. »Das ist alles ganz legal.«
    Ein westliches Unternehmen erhielt die Lizenz, eine Technik zu nutzen, mit der sich nicht nur Schneeansammlungen, sondern genauso einfach Truppenbewegungen, Luftmanöver und Armeeliegenschaften beobachten ließen. Die Amerikaner hatten ein echtes Wunder vollbracht, in Tibet eine solche Genehmigung zu bekommen.
    Shan fand die Straße, die zu der Mine führte. Sie erschien als winzige graue Linie, die zwischen den Schatten der Berggipfel zu sehen war. Er entdeckte die nördliche Straße, die bis zum Kloster Saskya verlief, und schließlich auch die Baustelle der 404ten. Die neue Brücke war ein schmaler Strich, der das gewundene graue Band des Drachenschlunds überquerte.
    Shan nahm neben Luntok Platz. »Ich bin im ragyapa-Dorf gewesen«, verkündete er. Der Mann neben Luntok erstarrte und warf dem Ingenieur einen Blick zu, während dieser nicht reagierte und weiterhin die Karten in Augenschein nahm. Der Mann griff sich seine Mütze und verließ das Gebäude.
    »Ich habe mit Merak gesprochen«, sagte Shan. »Kennen Sie Merak?«
    »Es ist eine kleine Gemeinschaft«, stellte Luntok lakonisch fest.
    »Es muß schwierig sein.«
    »Es gibt inzwischen Quoten für uns. Ich durfte die Universität besuchen. Ich habe eine gute Anstellung.«
    »Ich meine für die anderen. Sie sehen die Leute hier und in der Stadt und wissen gleichzeitig, daß die meisten von ihnen den Absprung niemals

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