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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Shan und murmelte etwas vor sich hin. Es klang wie ein Gebet. »Starke Magie«, keuchte er. Er hielt wie zum Schutz seinen Rosenkranz hoch und wich ein Stück zurück.
    »Was ist das?« fragte Shan. Er erinnerte sich noch von seinem ersten Besuch her an dieses Gebäude. Ein paar Tibeter waren herausgekommen und hatten auf irgend etwas gewartet.
    »Es ist sehr alt und sehr geheim«, flüsterte Yeshe.
    »Nein«, wandte Fowler ein. »Es ist nicht alt. Sehen Sie sich doch mal das Papier an. Es ist auf der Rückseite bedruckt.«
    »Ich meine, die Zeichen sind alt. Ich kann sie nicht alle lesen. Und selbst dann wäre es mir nicht erlaubt, sie zu rezitieren. Worte der Macht.« Yeshe schien wirklich erschrocken zu sein. »Gefährliche Worte. Ich weiß nicht, wer... die meisten der Lamas, die die Macht besessen haben, solche Worte zu schreiben, sind längst tot. In Lhadrung weiß ich von keinem einzigen.«
    »Falls er eine weite Reise hinter sich hatte, muß er aber ziemlich schnell gewesen sein«, sagte sie und sah Shan an.
    »Die Alten«, flüsterte Yeshe, auf den der Zauber offenbar nachhaltigen Eindruck gemacht hatte. »Diejenigen, die über solche Kräfte verfügten. Sie würden sagen, sie hätten das Pfeilritual zum Flug benutzt. Sie konnten zwischen den Dimensionen wechseln.«
    Nein, war Shan versucht zu sagen, der Zauber hatte keinen langen Weg hinter sich. Doch eine Reise durch die Dimensionen war vorstellbar.
    Fowler grinste verunsichert. »Das sind doch nur Worte.«
    Yeshe schüttelte den Kopf. »Es sind nicht nur Worte. Man kann solche Worte nicht schreiben, solange man nicht über die entsprechende Macht verfügt. Nein, Macht ist nicht das richtige Wort. Weitblick. Zugriff auf gewisse Kräfte. Nach der Lehre der alten Schulen würde ich oder jemand anders, der nicht dazu befugt ist, bei dem Versuch, so etwas zu schreiben..« Yeshe zögerte.
    »Ja?« fragte Fowler.
    »Ich würde in tausend Stücke gerissen.«
    Shan trat vor und nahm das Papier genauer in Augenschein.
    »Aber was bewirkt es?« fragte Fowler.
    »Es geht um den Tod und um Tamdin.«
    Sie erschauderte.
    »Nein«, berichtigte Yeshe sich. »Das ist nicht ganz richtig. Es ist schwierig zu erklären. Es ist wie ein Wegweiser für Tamdin. Es rühmt seine Taten. Seine Taten sind der Tod. Allerdings ein guter Tod.«
    »Ein guter Tod?«
    »Ein schützender Tod. Ein transportierender Tod. Es bietet ihm die Hilfe aller Seelen hier an, um einen Pfad zur Erleuchtung zu finden.«
    »Ich denke, es geht um den Tod?«
    »Tod und Erleuchtung. Manchmal benutzen die alten Priester das gleiche Wort dafür. Es gibt viele verschiedene Arten des Todes. Und viele verschiedene Arten der Erleuchtung.« Yeshe drehte sich kurz zu Shan um, als sei ihm auf einmal klargeworden, was Shan zu ihm gesagt hatte.
    »Alle Seelen hier?« fragte Fowler. »Wir?«
    »Vor allem wir«, sagte Shan ruhig und ging näher an den Zauberspruch heran.
    »Niemand hat mich gefragt, ob ich meine Seele zur Verfügung stellen möchte«, sagte Rebecca Fowler und wollte damit einen Scherz machen. Aber sie lächelte nicht.
    Shan fuhr mit den Fingern über das Flickwerk. Es bestand aus dreißig oder vierzig kleinen Papierstücken, die von menschlichem Haar zusammengehalten wurden. Er brauchte nicht auf die Rückseite zu schauen, um festzustellen, daß manche der Blätter aus den Kontrollbüchern der Wachen der 404ten stammten. Er hatte selbst gesehen, wie dieser Zauberspruch angefertigt wurde.
    »Und das ist alles, was dieser Priester gemacht hat?« fragte Shan.
    »Nein, da war noch etwas. Er hat diesen Schrein auf dem Berg errichten lassen.« Sie wies auf den Schrein, der Shan zuvor bereits aufgefallen war. »Ich soll dort heute nacht hingehen.«
    »Warum Sie? Wieso heute nacht?«
    Fowler antwortete nicht, sondern führte sie in das Haus, das sich als ein Wohngebäude der Arbeiter erwies. Der erste Raum schien als Erholungszone gedacht zu sein, aber er war leer. In den Regalen stapelten sich Puzzlespiele, Bücher und Schachbretter. Die Stühle und Tische waren beiseite geschoben worden und standen vor den Regalen. In einer leeren Konservendose verbrannte Weihrauch. Ein kleiner Tisch stand genau in der Mitte des Raums. Auf ihm lag ein Bündel, umgeben von flackernden Butterlampen.
    »Luntok hat es bei einem der Teiche gefunden«, sagte Fowler. »Ein Geier hatte es dort fallengelassen. Zuerst dachten wir, es würde von einem Menschen stammen.«
    »Luntok?«
    »Er kommt aus einem dieser alten Dörfer, wo man...

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