Der fremde Tibeter
daß man es weder von der Straße noch aus der Luft erkennen kann.«
Harkog nickte grimmig, und Yeshe streckte ihm einen Zettel entgegen. »Hier, ein Bannspruch, den Sie an Ihrem Zelt befestigen können«, sagte er. »Lassen Sie Balti beten. Aber er muß meine Anordnung befolgen. Heute den ganzen Tag. Morgen einen halben Tag. Ab übermorgen nur noch eine Stunde täglich, und das einen ganzen Monat lang. Außerdem muß er in zwei Tagen herauskommen und die Hügel durchstreifen. Der Geist ist von ihm gewichen. Balti muß werden, was er ist.«
»Wir werden khampa sein«, erwiderte Harkog mit einem breiten Grinsen und zeigte seine drei Zähne.
Zurück im Wagen, untersuchte Shan die Kleidungsstücke. Sie waren schlammverschmiert. Billige Arbeitskleidung, kaum besser als diejenige, welche an die Häftlinge ausgegeben wurde. Doch die ausgetretenen Schuhe waren in ein Jackett eingewickelt, das zu einem Anzug gehörte. Es war zerrissen und verdreckt, jedoch von ganz anderer Qualität, denn es stammte aus der Fertigung einer Schneiderei. In einer der Taschen fanden sich ein Taschentuch sowie einige Visitenkarten, die von einem Gummiband zusammengehalten wurden. Jao Xengding, stand darauf. Ankläger des Bezirks Lhadrung. Balti hatte Jaos Jackett getragen. Es war kalt in jener Nacht, hatte er gesagt. Er hatte Jaos Jackett angezogen und sich auf die Motorhaube des Wagens gesetzt.
In der anderen Tasche steckten mehrere gefaltete Stücke Papier in einer Büroklammer. Shan faltete die Zettel auseinander. Bei einigen davon handelte es sich um Quittungen, zu denen auch die oberste aus dem mongolischen Restaurant gehörte, auf deren Rand »Amerikanische Mine« geschrieben stand. Darunter befand sich ein kleiner Zettel, auf den jemand das Wort Bambusbrücke gekritzelt hatte. Auf einem gelben Blatt stand Sie brauchen das Röntgengerät nicht. Unter den Worten befand sich ein Symbol, das wie ein umgekehrtes Y aussah, dessen Grundstrich von zwei Balken durchkreuzt wurde. Vielleicht sollte es das Ideogramm für »Himmel« darstellen, vielleicht war es aber auch nur gedankenloses Gekritzel. Auf einem anderen Blatt waren mehrere Städte aufgeführt. Lhadrung, Lhasa, Peking und Hongkong, stand da, gefolgt von den Worten Bei Da-Verband. Wo hatte er das schon mal gehört? Dann fiel es ihm wieder ein. Der Lama in Khartok, der als Geschäftsführer fungierte, hatte gesagt, der Bei Da-Verband sei ihnen beim Wiederaufbau behilflich. Bei Da war die Pekinger Universität.
Eine vierte Notiz wirkte beinahe wie ein Einkaufszettel. Schal, Weihrauch und Gold, stand dort zu lesen. Einer dieser Zettel, begriff er, hatte Jao vermutlich in den Tod gelockt.
Shan war noch immer mit dem Versuch beschäftigt, den Sinn dieser Worte zu ergründen, als sie den schmalen Paß erreichten, der von dem Plateau hinabführte. Sie hatten Pemu in der Nähe der Herden ihrer Familie abgesetzt, nachdem das Mädchen sich ein letztes Mal Yeshes Hand auf den Kopf gelegt und ein kurzes Dankgebet gesprochen hatte. Plötzlich schlug vor ihnen ein Blitz ein und setzte neben der Straße einen Busch in Brand. Der Strauch ging lodernd in Flammen auf. Keiner sprach ein Wort. Sie warteten, bis der Busch zu Asche zerfallen war, und fuhren dann weiter.
Kapitel 13
Das Eingangstor des Lagers Jadefrühling war angegriffen worden. Einige Bretter waren geborsten, und der Draht hing lose herab. Auf einer Breite von jeweils zwanzig Metern neben dem Tor war das Heidekraut niedergetrampelt. Im Licht, das aus der Wachhütte fiel, sah Shan, daß Kleidungsfetzen im Stacheldraht hingen. Ein finster und wütend dreinblickender Arbeitstrupp tauschte die Angeln an einem der beiden großen Torflügel aus. Shan starrte ungläubig nach vorn. Er konnte vor lauter Erschöpfung kaum mehr aus den Augen blicken, denn hinter ihm lagen sechzehn schreckliche Stunden Fahrt, in deren Verlauf er sich mit Sergeant Feng am Steuer abgewechselt hatte. Während seiner Fahrpausen war es ihm nicht gelungen, länger als ein paar Minuten am Stück zu schlafen. Der letzte Eindruck von Balti, wie er im dunklen Zelt saß und sich vor und zurück wiegte, hatte ihn immer wieder aufschrecken lassen.
Shan wankte verwirrt aus dem Wagen und hielt unwillkürlich nach Blutflecken am Boden Ausschau.
Sobald er sich der Wachhütte näherte, schaltete jemand ein Flutlicht ein, das ihm vorübergehend die Sicht nahm.
Als er wieder etwas erkennen konnte, stand ein Offizier neben ihm. »Wir haben Sie vermißt«, sagte der Mann mit
Weitere Kostenlose Bücher