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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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ein Bild vor Shans innerem Auge darstellte, sondern lediglich ein Konzept. Den Sohn, der vermutlich davon ausging, daß Shan tot war. Den Sohn, der ihn stets als einen Versager verachten würde, gleich ob tot oder lebendig.
    »Nein«, sagte er und wandte sich wieder Yeshe zu. Nicht ich, wollte er sagen. Ich bin nicht stark genug, um noch eine Last zu tragen. »Sie haben das getan, weil Sie die Wahrheit herausfinden wollen. Sie haben das getan, weil Sie wieder ein Tibeter sein möchten.«
    Yeshe blinzelte nicht. Er ließ nicht erkennen, ob er Shan überhaupt gehört hatte.
    Shan schrieb die Nummern aus Jaos geheimer Akte ab. »Falls das Telefonnummern sind, muß ich wissen, zu welchen Anschlüssen sie gehören«, sagte er.
    Yeshe seufzte und musterte das Blatt. »Das könnten wir auch bei der 404ten erledigen. Oder im Lager Jadefrühling.«
    »Nein, könnten wir nicht«, erwiderte Shan schroff. Die Öffentliche Sicherheit würde die Leitungen aus dem vergessenen Büro irgendeiner vergessenen Klinik vermutlich nicht abhören. »Soweit die Vermittlung weiß, sind Sie bloß ein Büroangestellter des Krankenhauses, der versucht, die Identität eines unbekannten Toten herauszufinden. Versuchen Sie es mit Lhasa. Dann mit Shigatse, Peking, Shanghai, Guangzhou oder New York. Aber finden Sie es heraus.« Er zog die amerikanische Geschäftskarte aus der Tasche, die man bei Jaos Leiche gefunden hatte. »Und dann kümmern Sie sich hierum.«
    Als Yeshe den Hörer abnahm, ging Shan aus dem Zimmer und trat an ein Fenster im Gang. Draußen konnte er Sergeant Feng sehen, der im Wagen saß und schlief. Er drehte sich um. Der tibetische Pfleger war wieder in seiner Nähe, stand an einer offenen Tür und musterte Shan, während er den Boden wischte. Am anderen Ende des Gangs erschien ein weiterer Pfleger und schob einen Rollstuhl vor sich her. Der erste Mann hielt inne, und als Shan zu ihm herübersah, wies er angestrengt auf die offene Tür. Shan ging zögernd in seine Richtung. Hinter sich hörte er ein metallisches Rasseln. Der zweite Pfleger näherte sich schnellen Schritts.
    »Sehen Sie nur, da drinnen«, sagte der erste Pfleger.
    Es war ein unbeleuchteter Wandschrank. Im Halbdunkel sah Shan einen Besen und Putzmittel. Plötzlich legte sich von hinten ein Arm um seine Brust, und jemand drückte ihm einen Stoffetzen aufs Gesicht, der nach einer starken Chemikalie stank. Etwas Hartes traf ihn in die Kniekehlen. Der Rollstuhl. Das letzte, woran er sich erinnerte, war das Klingeln kleiner Glocken.
    Er erwachte auf dem Boden einer Höhle und hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Chloroform. Die Höhle war vollgestopft mit kleinen Buddhastatuen aus Gold und Bronze, und in den Regalen stapelten sich Hunderte von Manuskripten. Im trüben Licht der Butterlampen sah er zwei Gestalten mit kahlgeschorenen Köpfen. Eine von ihnen bückte sich und begann damit, Shans Gesicht mit einem feuchten Tuch abzuwischen. Es war einer der Pfleger. An seinem Handgelenk hing ein Rosenkranz, an den winzige Glöckchen gebunden waren. Ein Streichholz flammte auf, und dann wurde es heller in der Höhle. Der erste Mann stand auf, und der andere wich zur Seite und gab den Blick auf eine Kerosinlampe frei.
    Es war ein leises Grollen zu hören, wie ferner Donner. Im heller werdenden Licht erkannte Shan eine Tür mit einem Holzrahmen. Das hier war keine Höhle, sondern ein Raum, den man direkt aus dem Felsen herausgemeißelt hatte, und der Donner war das Geräusch des Straßenverkehrs über ihren Köpfen.
    »Warum machst du dir so viele Gedanken über das Tamdin- Kostüm?« fragte auf einmal der Mann mit der Lampe. Es war der illegale Mönch vom Marktplatz, der purba mit dem Narbengesicht. »Du hast Direktor Wen vom Büro für Religiöse Angelegenheiten nach den Kostümen in den Museen gefragt.«
    »Weil der Mörder wie Tamdin aussehen wollte«, sagte Shan und rieb sich die schmerzende Schläfe. »Vielleicht war er der Meinung, er würde Tamdins Willen vollstrecken.«
    Der Mann runzelte die Stirn. »Und du glaubst, jemand hat so ein Kostüm?«
    »Das weiß ich sogar mit Sicherheit.«
    »Oder hat eventuell jemand nur ein paar Artefakte plaziert, um dich zu dieser Überzeugung zu bewegen?«
    Shan dachte darüber nach. »Nein, er wurde gesehen. Jemand in so einem Kostüm wurde von Ankläger Jaos Fahrer gesehen. Der Mann hat nicht gelogen. Diese Beobachtung wurde übrigens nicht nur beim Mord an Jao gemacht, sondern auch bei einigen der anderen Morde, vielleicht sogar

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