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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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und arrogant. Auf einer Wange hatte er die Narbe einer Schußverletzung.«
    »War einer von denen je bei Ihnen in Behandlung?«
    »Die sind gesund wie Yaks, einer wie der andere.«
    »Nicht mal wegen eines Hundebisses?«
    »Eines Hundebisses?«
    »Schon gut.« Shan hatte nicht vergessen, daß sich unter den geheimen Zaubern, die von der ragyapa gekauft worden waren, auch Bannsprüche gegen Hundebisse befunden hatten. Er konnte es nicht logisch begründen, aber auf irgendeine Weise ließ diese Tatsache ihn nicht mehr los. Jemand wollte einerseits Vergebung von Tamdin erlangen und sich andererseits vor Hundebissen schützen.
    »Hat Jao Ihnen gegenüber je erwähnt, er würde von hier weggehen? Oder versetzt werden?«
    »Er hat ein paar Andeutungen darüber gemacht, wie schön es doch wäre, wieder zurück im eigentlichen China zu sein.« »Sind das seine Worte oder Ihre?«
    Sie wurde wieder rot. »Er hat von Rückkehr gesprochen. Er sagte, wenn er nach Hause käme, würde er sich einen Farbfernseher kaufen. In Peking kann man inzwischen angeblich die Sender aus Hongkong empfangen. Ich schätze, letzten Endes hat er es geschafft«, fügte sie hinzu.
    »Was hat er geschafft?«
    »Nach Peking zurückzukehren. Miss Lihua hat ein Fax aus Hongkong geschickt und darum gebeten, daß seine Leiche und Vermögenswerte zurückgesandt werden.«
    Shan starrte sie ungläubig an. »Unmöglich. Nicht, solange die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind.«
    Sung funkelte ihn mit einem triumphierenden Lächeln an. »Heute morgen ist ein Lastwagen der Öffentlichen Sicherheit hergekommen und hat ihn abgeholt. Die Männer hatten einen Sarg dabei. Von Gonggar aus ist die Leiche dann an Bord eines Militärflugzeugs ausgeflogen worden.«
    »Die Behinderung gerichtlicher Ermittlungen ist ein schwerwiegendes Vergehen.«
    »Nicht, wenn die Öffentliche Sicherheit es wünscht. Ich habe um eine schriftliche Bestätigung gebeten.«
    »Ist Ihnen das nicht merkwürdig vorgekommen? Haben Sie denn nicht daran gedacht, daß diese Untersuchung auf direkte Anweisung von Oberst Tan erfolgt?«
    Sung blickte erschrocken auf. »Ankläger Li hat mir den Befehl ausgehändigt«, erklärte sie beunruhigt.
    »Ankläger? Es gibt keinen neuen Ankläger. Noch nicht.«
    »Was sollte ich denn machen? Das Büro des Parteivorsitzenden um Bestätigung bitten?«
    »Wer hat die Anweisung unterschrieben?«
    »Ein Major der Öffentlichen Sicherheit.«
    Shan rang verzweifelt die Hände. »Hat dieser Major denn keinen Namen? Fragt ihn denn niemals jemand danach?«
    »Genosse, im Umgang mit der Öffentlichen Sicherheit sollte man eines ganz bestimmt nicht tun: den Leuten Fragen stellen.«
    Shan machte einen Schritt auf die Tür zu und drehte sich dann um. »Ich muß telefonieren«, sagte er. »Ein Ferngespräch.«
    Sie stellte keine Fragen, sondern führte ihn in ein leeres Büro im hinteren Teil des Gebäudes. Als sie ging, erschien eine Gestalt an der Tür. Yeshes Verzweiflung war ihm noch immer anzumerken, aber seine Augen funkelten entschlossen.
    »Als man mich von der Universität zurückgeschickt hat«, sagte er, während er den Raum betrat, »da wußte ich, wer das Foto des Dalai Lama aufgehängt hatte. Es war nicht einmal ein Tibeter, sondern ein chinesischer Freund von mir. Es war als Scherz gemeint. Ein Streich.« Er ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Man hat mich ins Arbeitslager gesteckt, weil man dachte, ich wäre dazu fähig gewesen. Aber das war ich nicht. Ich hätte nie genug Mut dazu aufgebracht.«
    Shan legte Yeshe die Hand auf die Schulter. »Es ist ein Fehler, Mut für etwas zu halten, das man anderen gegenüber beweisen muß. Wahrer Mut ist einzig und allein etwas, das man sich selbst eingesteht.«
    »Man muß wissen, wer man ist, bevor man überhaupt die Möglichkeit hat, diese Art von Mut zu erkennen«, sagte Yeshe und blickte zu Boden.
    »Ich glaube, Sie wissen es.«
    »Nein, weiß ich nicht.«
    »Ich glaube, der Mann, der dem Major die Stirn geboten und Baltis Leben gerettet hat, wußte, wer er war.«
    »Jetzt, da wir wieder hier sind, fühlt es sich an, als hätte ich nur eine Rolle gespielt. Ich weiß nicht, ob das wirklich ich gewesen bin.«
    »Für wen haben Sie diese Rolle gespielt?«
    »Keine Ahnung.« Yeshe hob den Kopf und sah Shan in die Augen. »Vielleicht für Sie«, sagte er leise.
    Shan wandte den Blick ab. Seltsamerweise mußte er bei diesen Worten an seinen Sohn denken, den Sohn, der so weit von ihm entfernt war, daß er nicht einmal

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