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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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noch die Breite eines Haares trennt ihn von den Toren der Buddhaschaft.«
    »Das ist keine zulässige Verteidigung.«
    Je seufzte. »Ein Mord wäre eine Verletzung seiner Gelübde. Er ist ein wahrhaft Gläubiger. Er hätte mir sofort davon erzählt. Er hätte sein Gewand abgelegt. Sein Zyklus wäre unterbrochen worden.«
    »Aber trotzdem sagt er nicht, daß er es nicht getan hat.«
    »Das wäre eine eigennützige Handlung. Uns wurde beigebracht, solche Handlungen zu meiden.«
    »Demnach beteuert er deshalb nicht seine Unschuld, weil er nicht schuldig ist.«
    »Genau.« Je lächelte. Shans Logik schien ihm sehr zu gefallen.
    »Der Leiter des Büros für Religiöse Angelegenheiten hat kürzlich das Kloster besucht. Hat Sungpo den Mann gesehen?«
    »Sungpo ist ein Einsiedler. Sobald er in Meditation versunken ist, würde er einen solchen Besucher nicht einmal dann bemerken, wenn dieser neben ihm stehen und ihm einen Tritt versetzen würde.«
    Shan wandte sich an Jigme. »Gibt es noch einen anderen Weg zu Ihrer Hütte als den, auf dem wir gekommen sind?«
    »Es gibt ein paar alte Wildpfade. Oder man klettert die Felsen hoch.«
    Sungpo war inzwischen fast gänzlich entschwunden. Er schien keinen der Anwesenden mehr hören zu können, nicht einmal den alten Je. »Das Wissen, daß er für das Verbrechen eines anderen sterben wird, ist das nicht auch eine Art der Lüge?« fragte Shan den alten Lama und mußte gegen die Verzweiflung in seiner Stimme ankämpfen.
    »Nein. Ein falsches Schuldbekenntnis, das wäre eine Lüge.«
    »Bislang haben wir die Öffentliche Sicherheit aus der Sache heraushalten können. Aber sie werden versuchen, noch vor dem Prozeß ein Geständnis zu bekommen, und diese Leute versagen nur selten.« Er hatte in Peking einst eine entsprechende Direktive zu Gesicht bekommen. »Die Eröffnung eines Verfahrens, ohne daß ein Geständnis vorliegt, gilt als schlechte Arbeit der Justizorgane und als Mißachtung der sozialistischen Ordnung. Falls Sungpo nicht selbst daran mitwirkt, wird man in seinem Namen ein Geständnis verlesen.«
    »Aber das wäre widersinnig«, stellte Je mit nach wie vor gelassener Stimme fest.
    Shan beneidete ihn um seine Naivität. »Der Prozeß wird zur Unterweisung des Volkes durchgeführt.«
    »Ah. Du meinst wie bei einer Parabel.«
    »Ja«, erwiderte Shan mit hohler Stimme. Ein Bild blitzte vor seinem inneren Auge auf. Die alte Frau mit Mop und Eimer, wie sie hinter Sungpo die Treppe heraufkam. »Außer, daß eine solche Verhandlung eindeutigere Wirkung zeitigt als eine Parabel.«
    Yeshe saß auf den Stufen vor ihrer Unterkunft, als Shan ein paar Decken für Je holen wollte. Der alte Lama bestand darauf, im Zellenblock zu bleiben. »Ich werde darum bitten, wieder an meine Arbeit bei der 404ten zurückkehren zu dürfen. Falls ich noch ein weiteres Jahr bei Zhong bleiben muß, dann werde ich das eben ertragen«, verkündete Yeshe und folgte Shan durch die Tür. »Ich möchte an dieser Sache nicht länger beteiligt sein. Das alles ist zu verwirrend. Was ist, wenn Jigme mit seiner Behauptung recht hat, Sungpo könne mit Leichtigkeit ein Gesicht abwerfen?«
    »Soll das heißen, wir sollten akzeptieren, daß er sich opfert?«
    »Es geht ja nicht nur um Sungpo. Sie haben es doch selbst gesagt. Es wird nicht ausreichen, Sungpos Unschuld zu beweisen. Wir werden eine Alternative anbieten müssen.
    Womöglich verhaftet man dann vier oder fünf andere Mönche. Vielleicht sogar zehn oder zwanzig und nennt es eine Verschwörung der purbas. Alle würden im gleichen Maße für schuldig befunden. Und vielleicht würde man sich nicht mit den purbas begnügen. Es gibt so viele Leute, die Widerstand leisten.«
    »Ihrer Meinung nach muß also entweder Sungpo oder der Widerstand geopfert werden.«
    »Der Widerstand im Bezirk Lhadrung, ja.«
    »Und Sie sprechen sich jetzt für den Widerstand aus?«
    »Sie haben mein gompa gesehen. Ich könnte kein purba sein, ohne meine Gelübde zu brechen. Ich würde für alle Zeit ausgestoßen werden. Es gäbe keine Hoffnung auf Rückkehr.«
    »Hegen Sie denn diese Hoffnung?« fragte Shan.
    »Nein«, erwiderte Yeshe mit bewegter Stimme. »Ich weiß es nicht. Vor zwei Wochen hätte ich es noch verneint. Jetzt weiß ich lediglich, wie schmerzhaft eine Rückkehr sein könnte.«
    Shan erinnerte sich an die Hunde in Yeshes Kloster. Die Seelen von gescheiterten Priestern, hieß es.
    Draußen ertönte lautes Geschrei, gefolgt vom hämmernden Geräusch einiger Stiefel, die über

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