Der fremde Tibeter
Shan den Weg zu versperren. »Noch nicht, bitte«, sagte die Gestalt. Es war eine Frau. Eine Nonne.
»Sie verstehen nicht. Falls ich nicht innerhalb kürzester Zeit... «
Die Nonne lächelte nur, nahm ihn bei der Hand und führte ihn einen kurzen Gang entlang in eine zweite Kammer. Es mußte sich einst um ein gompa gehandelt haben, erkannte Shan, um den unterirdischen Schrein eines alten, vergessenen gompa. Es ergab Sinn. Früher war jede tibetische Stadt rund um ein zentrales gompa errichtet worden. Der zweite Raum war hell erleuchtet. Vier Lampen hingen von den Deckenbalken herab.
Ein kleiner Mann saß über einen roh behauenen Tisch gebeugt und schrieb in ein großes Buch. Er schaute auf, nahm seine zerbrechliche Brille ab und blinzelte einige Male. »Mein Freund!« rief er entzückt und sprang von seinem Hocker auf, um Shan in die Arme zu schließen.
»Lokesh? Bist du das?« Shans Herz vollführte einen Freudensprung, während er den Mann auf Armeslänge von sich hielt und genau musterte.
»Mein Geist hat sich emporgeschwungen, als man mir erzählte, du würdest vielleicht kommen«, sagte der alte Mann und lächelte glücklich.
Shan hatte Lokesh nur in Gefängniskleidung gekannt. Er starrte ihn an und wurde völlig von seinen Gefühlen überwältigt. Es war, als würde er plötzlich einen verloren geglaubten Onkel wiederfinden. »Du hast ein wenig zugenommen.«
Der alte Mann lachte und umarmte Shan ein weiteres Mal. »Tsampa«, sagte er. »Soviel tsampa, wie ich will.« Shan entdeckte einen vertrauten Blechnapf auf dem Tisch, der zur Hälfte mit gerösteter Gerste gefüllt war. Es war eine der Schalen, wie sie bei der 404ten benutzt wurden. Alte Gewohnheiten ließen sich nicht so leicht ablegen.
»Aber deine Frau. Ich dachte, du wärst mit ihr nach Shigatse gegangen.«
Der alte Mann lächelte. »Das bin ich auch. Aber stell dir vor, zwei Tage, nachdem ich nach Hause zurückgekehrt war, hat meiner Frau die letzte Stunde geschlagen.«
Shan starrte ihn ungläubig an. »Ich bin...« Ja, was bin ich eigentlich? dachte er. Untröstlich? Wütend? Wie gelähmt, weil niemand mehr etwas daran ändern kann? »Es tut mir leid«, sagte er.
Lokesh zuckte die Achseln. »Ein Priester hat zu mir gesagt, wenn eine Seele reif und bereit ist, fällt sie einfach wie ein Apfel vom Baum. Es war mir vergönnt, am letzten Tag meiner Frau bei ihr zu sein. Und das verdanke ich dir.« Er legte noch einmal die Arme um Shan, trat dann einen Schritt zurück und nahm ein kleines verziertes Medaillon ab, das um seinen Hals hing. Es war ein altes gau, das Behältnis für Lokeshs Schutzzauber. Er streifte es Shan über.
»Das kann ich nicht annehmen.«
Lokesh hob einen Finger an die Lippen. »Natürlich kannst du das.« Er schaute zu der Nonne. »Wir haben keine Zeit für Diskussionen.«
Die Nonne blickte zurück ins Halbdunkel, wo sich der narbengesichtige purba befunden hatte. Als sie sich zu Shan umwandte, schimmerten ihre Augen feucht. »Sie müssen uns helfen. Sie müssen ihn aufhalten.«
Shan war verwirrt. »Er hat gesagt, er würde keine Gewalt anwenden.«
Die Nonne biß sich auf die Lippe. »Nur gegen sich selbst.«
»Sich selbst?«
»Er will zum Berg gehen, die verbotenen Riten abhalten und sich dann den Kriechern ausliefern.« Ihre Hand umklammerte seinen Arm, während Shan zurück in den Schatten des unterirdischen Labyrinths starrte und endlich verstand. Der narbengesichtige purba, war der fünfte und letzte der Fünf von Lhadrung und gleichzeitig der nächste, den man eines Mordes beschuldigen würde, sofern die Verschwörung weiterhin andauerte.
Sanft löste Lokesh den Griff der Nonne und zog Shan zum Tisch. »Die 404te steckt erneut in Schwierigkeiten. Wir brauchen noch einmal deine Weisheit, Xiao Shan.«
Shan folgte Lokeshs Blick zu dem Buch, das auf dem Tisch lag. Es hatte die Ausmaße eines großen Wörterbuchs und war in Holz und Leinen gebunden. Die Eintragungen in dem Manuskript stammten von verschiedener Hand und waren sogar teilweise in verschiedenen Sprachen abgefaßt. Zumeist handelte es sich um Tibetisch, vereinzelt aber auch um Mandarin, Englisch und Französisch.
Die Nonne blickte mit großen, traurigen Augen auf. »Es gibt hiervon elf Exemplare in Tibet«, sagte sie leise. »Einige weitere in Nepal und Indien und sogar eines in Peking.« Sie trat zur Seite und bedeutete Shan, am Tisch Platz zu nehmen. »Man nennt es das Lotusbuch.«
»Hier, mein Freund«, sagte Lokesh aufgeregt und schlug die
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