Der fremde Tibeter
unterhalten. Tee getrunken. Es hat sich so... ich weiß nicht... zivilisiert angefühlt.« Sie legte beide Hände um den Springer und drehte sie, als wolle sie ihn zerbrechen.
»Also haben Sie diesen Brief geschrieben, um bei seinen Ermittlungen behilflich zu sein. Weil er etwas Verborgenes finden wollte.«
»Es wäre ganz einfach, so wie Sie zu sein, Genosse Shan, und bloß Fragen zu stellen. Aber ich habe Ihnen bereits gesagt, daß es Fragen gibt, die man nicht stellen darf. Ihre Aufgabe besteht allein darin, sich nach der Wahrheit anderer Leute zu erkundigen. Manche von uns müssen diese Wahrheit leben.«
»Eine Morduntersuchung?« fragte Shan. »Korruption? Spionage?«
Sung lachte leise auf. »Spionage in Lhadrung? Das glaube ich kaum.«
»Wofür hat er dieses Gerät benötigt?«
Sung schüttelte langsam den Kopf. »Er wollte wissen, ob es in einen seiner Geländewagen mit Allradantrieb passen würde. Er hat sich erkundigt, was für eine Energiequelle dafür nötig wäre. Mehr weiß ich nicht.«
»Warum haben Sie ihn nicht gefragt? Er war immerhin Ihr Schachpartner.«
»Genau deswegen.« Sung öffnete die Hand und schaute unglücklich auf cfen Springer. »Ich habe angenommen, daß er eines der Gräber öffnen wollte. Und falls dieser Verdacht sich bestätigt hätte, wäre es mir unmöglich gewesen, ihn je wieder hier Platz nehmen zu lassen.«
Die 404te war wie ein Friedhof. Aus den Baracken schauten die hohlwangigen und ausdruckslosen Gesichter der Gefangenen. Die Patrouillen, die dafür sorgten, daß die Männer in den Quartieren blieben, marschierten steifbeinig über das Gelände. Dabei warfen die Soldaten immerfort mißtrauische Blicke über die Schultern.
Der Stall war in Benutzung. Shan war sich dessen sicher - nicht weil es Schreie gegeben hätte. Die Tibeter schrien nie. Auch das Krankenrevier war nicht stärker als üblich belegt. Er war sich deswegen sicher, weil ein Offizier an ihm vorbeiging, der Gummihandschuhe trug.
Über Sergeant Feng schien eine dunkle Wolke zu schweben, als er zusammen mit Shan durch das Tor ging. Er sprach kein Wort mit den Kriechern, die die Todeszone bewachten, sondern schaute stur geradeaus, bis sie die Hütte erreichten. Dann öffnete er Shan die Tür, trat beiseite und forderte ihn mit einer unbeholfenen Geste auf, den Raum zu betreten.
Der Anblick, der sich Shan bot, war praktisch der gleiche wie vor sechs Tagen, als er die Hütte verlassen hatte. Trinle lag völlig erschöpft im Bett und hatte eine Decke über sein Gesicht und den größten Teil des Körpers gebreitet. Die anderen saßen in einem Kreis am Boden und wurden von einem der älteren Mönche unterwiesen.
Choje Rinpoche hatte aus einem Streifen seiner Decke ein gomthag-Band angefertigt und es sich um Knie und Rücken geknotet, damit er beim Meditieren nicht umkippen würde. Einer der Novizen hielt Choje einen Stoffetzen an den Hinterkopf. Als er ihn wegnahm, war der Stoff von Blut gerötet.
Choje benötigte mehrere Minuten, bis er in der Lage war, auf Shans Fragen einzugehen. Seine Lider zitterten; dann öffnete er die Augen, und sein Blick belebte sich. Durchdringend und neugierig sah er sich in der Hütte um, als wolle er sich vergewissern, in welcher Welt er sich befand. »Du bist noch bei uns«, sagte er, nicht als Frage, sondern als Gruß.
»Ich muß etwas über Tamdin wissen«, sagte Shan. Es schien ihm, als würde er das Leid des Lama weitaus stärker verspüren als Rinpoche selbst. »Rinpoche«, fragte er, »was wäre, falls Tamdin sich entscheiden müßte, ob er die Wahrheit oder die alten Bräuche beschützen soll?«
Von allen ungeklärten Rätseln, die diesen Fall umgaben, beschäftigte ihn am meisten die Frage nach dem Motiv des Mörders. Tamdin war ein Beschützer des Glaubens, und seine Opfer hatten den Glauben entweiht. Aber wie konnte es dann sein, daß ein solcher Mörder unschuldige Mönche für seine Verbrechen sterben ließ? Auch das war eine Entweihung des Glaubens.
»Ich glaube nicht, daß Tamdin eine Wahl trifft. Tamdin handelt. Er ist ein Gewissen mit Beinen.«
Und einem Schlachtermesser, dachte Shan.
»Wie ein Gewissen mit Beinen«, wiederholte der Lama.
Shan dachte schweigend über diese Worte nach.
»Als ich noch jung war«, hob Choje an, »da erzählte man sich, in einem nahen Dorf gäbe es einen Mann, der um Tamdins Hilfe betete, ohne sie je zu erhalten. Also schwor er Tamdin ab. Er sagte, Tamdin wäre eine Sagengestalt, die man für die Tänzer bei den Festen
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