Der fremde Tibeter
Aber Sie wirbeln zuviel Staub auf. Ihnen ist es zu verdanken, daß unsere Verdächtigen langsam Angst bekommen.«
»Falls Sie damit andeuten wollen, daß Ankläger Jao beabsichtigt hat, Oberst Tan zu verhaften, dann hatte Tan ein sehr viel stärkeres Motiv für den Mord als jeder andere. Klagen Sie ihn wegen der Tat an, und schon kann Sungpo freigelassen werden. Daraufhin können die Kriecher sich wieder von der 404ten zurückziehen. Das ist eine Lösung.«
»Liefern Sie mir einige Beweise.«
»Gegen Oberst Tan?« fragte Shan. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, Ihnen lägen bereits entsprechende Beweise vor.«
»Der Abgang der alten Garde dürfte Ihnen doch wohl mehr als gelegen kommen.«
»Ich bevorzuge in dieser Hinsicht den natürlichen Lauf der Dinge«, sagte Shan nachdenklich.
»Sie können doch unmöglich glauben, er würde sie beschützen.«
»Ich muß mir zum Glück schon lange keine Gedanken mehr um den Schutz meiner Person machen. Der Staat hat jetzt gewissermaßen das Sorgerecht für mich.«
Ein höhnisches Lächeln machte sich auf Lis Gesicht breit. »Sie sind seine Rückversicherung. Sein Sicherheitsnetz. Falls es Ihnen nicht gelingt, einen Fall aufzubauen, wird er eben selbst einen erschaffen. Er wird eine eigene Fallakte haben, auch wenn Sie letztendlich keine zustande bekommen. All Ihre Handlungen können als der Versuch ausgelegt werden, die Radikalen zu schützen. Allem die Behinderung der Justiz ist bereits eine lao gai-Anklage für sich. Ich habe es Ihnen gesagt. Ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen. Tan hat sich nicht allein deswegen für Sie entschieden, weil Sie früher als Ermittler gearbeitet haben. Sie wurden ausgewählt, weil Sie erklärtermaßen schuldig sind. Und entbehrlich.«
Dies war die einzige von Lis Behauptungen, die Shan dem stellvertretenden Ankläger glaubte. Shan sah, wie seine Finger sich anscheinend aus eigenem Antrieb bewegten. Sie formten ein mudra. Der Diamant des Verstands.
»Niemand wird sich für Sie einsetzen. Niemand wird sagen, Shan ist ein Modellhäftling, ein Held der Arbeit. Tan kann nicht einmal Ihren Namen auf den Bericht setzen, denn Sie existieren gar nicht. Andererseits besteht auch keine Veranlassung dafür, daß Sie ein Opfer abgeben müssen.«
So deutlich hatte Li seine Drohung noch nie in Worte gefaßt.
Shan musterte das mudra. »Dieser Ort hier«, sagte er in plötzlicher Erkenntnis, als er den Blick ein weiteres Mal durch den Raum schweifen ließ. »Das hier ist der Sitz des Bei Da-Verbands.«
Shan spürte, daß Li hinter ihm sich abrupt bewegte. »Es ist ein altes gompa. Es dient vielerlei Zwecken.«
»Ich habe eine Liste der gompas gesehen, denen die Genehmigung zum Wiederaufbau erteilt wurde. Dieses war nicht darunter.«
»Genosse, ich mache mir Sorgen um Sie. Sie wollen einfach nicht zuhören, wenn jemand versucht, Ihnen zu helfen.«
»Hat dieses gompa eine Lizenz?«
Li seufzte, zog die Zeremonienrobe aus und warf sie auf einen Hocker. »Es wurde vom Büro für Religiöse Angelegenheiten als Mustereinrichtung eingestuft. Es benötigt keine Lizenz.«
Shan hob die Hände. »Ich bewundere Ihre Fähigkeit, das alles unter einen Hut zu bekommen. Für mich wirkt es überaus verwirrend. Falls eine Gruppe, die von Peking bezahlt wird, sich zusammenfindet, um über die Erziehung des Volkes zu diskutieren, dann ist das lebendiger Sozialismus. Aber falls Leute in roten Gewändern dies tun, handelt es sich um eine unerlaubte kulturelle Aktivität.«
Li ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Sie waren sich beide darüber bewußt, wie gefährlich dieses Spiel wurde. »Sie sind nicht mehr auf dem neuesten Stand, Genosse. Hinsichtlich der Definition sozialistischer Vorgehensweisen zur Ausgestaltung der Beziehungen zwischen den Volksgruppen hat es sehr viele Fortschritte gegeben.«
»Meine Kenntnisse können sich selbstverständlich nicht mit Ihrer Ausbildung messen«, räumte Shan ein. Er stand auf und ging zur Tür.
»Wohin wollen Sie?« fragte Li verärgert.
»Die Sonne kommt durch die Wolken.« Bevor Li weitere Einwände erheben konnte, trat Shan bereits hinaus auf den Hof.
Ein Lieferwagen mit dem Abzeichen des Büros für Religiöse Angelegenheiten war eingetroffen. Arbeiter stellten auf einer Seite des Hofs Bänke auf, als solle hier ein Vortrag gehalten werden. Angeleitet wurden sie von der jungen Frau, die Shan in Direktor Wens Büro gesehen hatte - Miss Taring, die Archivarin.
Sobald Shan sie sah, begriff er die Zusammenhänge.
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