Der fremde Tibeter
Die purbas hatten ihm in ihrem unterirdischen Zufluchtsort erzählt, sie wüßten von Shans Gespräch mit Direktor Wen wegen des Kostüms. Es gab nur eine einzige Person, die ihnen davon berichtet haben könnte. Miss Taring hatte die purbas mit den entsprechenden Informationen versorgt, oder vielleicht war sie auch selbst eine purba. Er starrte sie an, als sähe er sie zum erstenmal. Ihr Haar war am Hinterkopf zu einem festen Knoten zusammengefaßt, und sie trug eine weiße Bluse und einen langen dunklen Rock, wodurch sie überaus professionell wirkte, eine Vorzeigearbeiterin. Sie hielt inne, nickte beiläufig und wollte sich gerade umdrehen, als ihr sein Blick auffiel. Langsam wandte sie sich ab, um den Arbeitern einige Anweisungen zu erteilen. Ihre Hände hatte sie auf dem Rücken verschränkt. Shan wollte ebenfalls kehrtmachen, als ihm auffiel, daß ihre Finger sich bewegten. Sie ballte die Fäuste, so daß die Daumen sich in einem Winkel von fünfundvierzig Grad gegenüberstanden und die Hände sich beinahe berührten. Shan hatte es zuvor schon gesehen; dieses mudra gehörte zu den Opferzeichen. Aloke, die Lampen, deren Licht die Welt erhellen sollte.
Miss Taring zeigte das mudra nur ganz kurz und schaute vorsichtig zum hinteren Bereich des Hofs. Dann ging sie zur gegenüberliegenden Mauer, blieb neben einem der großen Buddhaköpfe stehen und blickte zur Seite auf etwas, das Shan nicht sehen konnte.
Shan beobachtete sie verblüfft und ging dann auf die Frau zu. Noch bevor er die Wand erreichte, bewegte Miss Taring sich wieder von dort weg und beachtete ihn nicht weiter. Er stellte sich an dieselbe Stelle, an der zuvor sie gestanden hatte, und versuchte, sich über ihre Absicht klarzuwerden. Zwischen den Gebäuden gab es eine Lücke, die zugemauert werden sollte, allerdings war die Arbeit daran noch nicht abgeschlossen. Shan konnte über die unfertige Mauer hinweg auf einen eleganten Innenhof blicken. Ein Mann, der wie ein Kellner gekleidet war, trug ein Tablett mit hohen Gläsern. Eine große hölzerne Wanne mit brodelndem Wasser war teilweise in den Boden eingelassen. Zwei schlanke junge Frauen in Bikinis stiegen soeben hinein.
Verwirrt schaute Shan langsam in die andere Richtung und erstarrte vor Schreck. Dort befand sich ein niedriges Gebäude, ein ehemaliger Stall, der als Garage genutzt wurde. Darin standen zwei rote Land Rover.
Aus dem Augenwinkel sah Shan, daß Li sich näherte. Er drehte sich um und schlenderte gemächlich an den Statuenköpfen vorbei, so daß Li ihn einholen konnte.
»Ist Leutnant Chang von der 404ten ein Angehöriger Ihres Bei Da-Verbands?« fragte er.
Li runzelte die Stirn. »Ich glaube, er hat sich für die Mitgliedschaft qualifiziert«, lautete die rätselhafte Antwort.
»Und was ist mit einem Soldaten namens Meng Lau?«
Li ignorierte die Frage und trat näher an ihn heran. »Sie sollten Zeuge werden«, bot Li an. »Für jemanden in Ihrer Position muß es doch ungeheuer schwierig sein, derartige Ermittlungen zu leiten. Werden Sie statt dessen doch ein kooperativer Zeuge.«
»Ein Zeuge aus der 404ten?«
»Sagen wir, ein Zeuge, dem bei der 404ten kürzlich eine vertrauensvolle Aufgabe zugewiesen wurde. Ich werde mich für Sie verbürgen. Sie sind stets gewissenhaft, man hat Ihnen noch nie eine Lüge vorgeworfen, so was in der Art. Ihre Probleme in Peking haben ganz andere Ursachen gehabt. Das Tribunal müßte gar nichts davon erfahren.«
»Aber ich habe nichts zu sagen.« Shan ging weiter. In einer Ecke des Hofs war ein Wasserbecken. Es bestand aus jahrhundertealten Steinblöcken, in die man anmutige Muster gemeißelt hatte, und wurde von kleinen silbernen Fischen bevölkert. Einige Lotusblüten trieben dann und auch eine leere Bierflasche.
»Es wird Sie vielleicht überraschen, wie viel Sie erzählen könnten«, sagte Li hinter ihm.
Shan trat an den Rand des Beckens und drehte sich um. »Sie haben mir noch nicht die genaue Art Ihrer Korruptionsuntersuchung erläutert.« Von hier aus konnte er eine kleine Hügelkuppe direkt hinter dem Areal sehen. Darauf befand sich ein prächtiger sitzender Buddha von mindestens sechs Metern Höhe. Er trug einen ungewohnten Kopfschmuck. Jäh erkannte Shan, worum es sich handelte. Jemand hatte eine Satellitenschüssel am Kopf des Buddhas festgeschraubt.
Li stellte sich neben ihn und flüsterte es ihm ins Ohr. »Unregelmäßigkeiten in den Gefängnisbüchern, ungeklärte Abhebungen von staatlichen Konten, verschwundene Aktiva des
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