Der fremde Tibeter
erfunden hätte.«
»Ich habe in letzter Zeit kaum jemanden getroffen, der Tamdin als eine Erfindung bezeichnen würde.«
»Nein. Erfindung ist nicht das richtige Wort, um ihn zu beschreiben.« Choje hielt Shan eine Faust vor das Gesicht. »Das ist meine Faust«, sagte er und streckte dann die Finger aus. »Jetzt existiert meine Faust nicht. Wird sie deshalb zu einer Erfindung?«
»Willst du damit sagen, daß unter bestimmten Umständen jeder zu Tamdin werden kann?«
»Nicht jeder. Ich sage, daß Tamdins Essenz in etwas existieren kann, das nicht ständig Tamdin ist.«
Shan erinnerte sich an das letzte Mal, als sie über den Schutzdämon gesprochen hatten. Wenn es manche gibt, die Buddhaschaft erlangen, hatte Choje gesagt, so gibt es vielleicht andere, denen die Tamdinschaft vorherbestimmt ist.
»Wie der Berg«, sagte Shan leise.
»Der Berg?«
»Die Südklaue. Es ist ein Berg, aber er birgt noch etwas anderes in sich. Einen heiligen Ort.«
»Es ist so ein kleines Stück Welt, das wir hier haben«, sagte Choje, allerdings so leise, daß Shan gezwungen war, sich ihm entgegenzuneigen.
»Es gibt noch andere Berge, Rinpoche.«
»Nein. Das meine ich nicht. Diese...«, sagte er und beschrieb eine ausholende Geste. »Diese Welt nimmt keine Notiz von uns. Vor uns und nach uns liegt eine unermeßliche Zeitspanne. So viele Orte. Wir sind Staubkörnchen. Niemand dort draußen sollte sich Gedanken um uns machen. Nur wir selbst. Unsere gegenwärtige Daseinsform beansprucht in diesem Augenblick diesen Ort. Das ist alles. Und es ist wirklich nicht viel.«
Die Worte ließen Shan erschaudern. Etwas Furchtbares würde geschehen. »Du wirst nie wieder zu dem Berg zurückkehren, nicht wahr?« Entsetzt blickte er auf. »Ganz egal, was passiert. Du willst nicht, daß die Straße gebaut wird. Darum geht es die ganze Zeit.« Warum war das so wichtig? Hatte er sich in diesem Punkt geirrt und dem Geheimnis des Bergs zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt?
»Fünfzig oder auch hundert Jahre lang jeden Tag aufzuwachen, ist im Grunde keine große Leistung«, sagte Choje mit heiterem Lächeln. »Das ist, als würden wir darum streiten, ob dein oder mein Staubkörnchen größer ist. Es sind die Einwände einer unvollkommenen Seele.«
Man würde andere herbringen, um die Straße zu bauen, wollte Shan sagen. Aber er hatte nicht genug Mut.
»Wir haben es besprochen. Alle waren einverstanden. Abgesehen von einigen wenigen. Manche mit Familien. Manche, die einem anderen Pfad folgen müssen.«
Shan sah sich um. Der khampa war verschwunden.
»Wir haben ihnen unseren Segen erteilt. Heute morgen hat man sie durch die Absperrung gelassen. Diejenigen von uns, die hiergeblieben sind...«, sagte Choje mit seinem friedlichen Lächeln. Er zuckte die Achseln. »Tja, wir sind diejenigen, die hiergeblieben sind. Einhunderteinundachtzig. Einhunderteinundachtzig«, wiederholte er, noch immer lächelnd.
Die Pfeife blies zum Hofgang, dann noch eine und noch eine, jeweils mit leichter Verzögerung überall im Lager. Die Männer standen auf und gingen schweigend zur Tür.
»Es ist soweit, Trinle«, rief Choje mit neuer Stärke, und die Gestalt unter der Decke bewegte sich. Shan ließ Choje nicht aus den Augen und spürte, wie Trinle sich mühsam erhob. Schaudernd begriff er, daß Trinle im Stall gewesen sein mußte. Aus dem Augenwinkel sah er, daß die gebeugte Gestalt sich die Decke um das provisorische Gewand und wie eine Kapuze um den Kopf schlang und zur Tür schlurfte.
Nur Shan und Choje blieben in der Hütte zurück. Schweigend saßen sie inmitten der gleißenden Lichtstrahlen, die zwischen den losen Brettern der Wände und des Daches hindurchfielen.
»Was ist mit jenem Mann geschehen, der nicht mehr an Tamdin glauben wollte?«
»Eines Tages ist ein Teil des Berges über ihm zusammengestürzt. Alle wurden getötet. Der Mann, seine Kinder, seine Frau, seine Schafe. Und schlimmer noch.«
»Schlimmer?«
»Es war merkwürdig. Danach konnte sich niemand mehr an den Namen des Mannes erinnern.«
Plötzlich erklang von draußen ein sonderbar anschwellender Laut - kein Ruf, sondern ein schnell anwachsendes Gemurmel, das sich durch das ganze Lager zog. Shan half Choje auf die Beine.
Sie fanden die Häftlinge auf der kleinen Freifläche hinter der Hütte, genaugenommen eher am Rand derselben, wie sie in Zweier- und Dreierreihen um einen sechs Meter durchmessenden Fleck standen.
»Er ist verschwunden!« rief einer der Mönche, als sie näher kamen. »Der
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